Was an der Katastrophe von Tianjin so verstört: Sie ereignete sich nicht in irgendeinem heruntergekommenen Industriegelände. Der Ort des Desasters ist ein hochmodernes Vorzeigeprojekt. Das Industriegebiet Binhai New Area ist zweieinhalb Mal so groß wie Berlin, kein Gebäude ist älter als 25 Jahre. Die Hälfte der Fortune 500 Unternehmen, der umsatzstärksten Firmen der Welt, hat hier Niederlassungen. Volkswagen ist darunter, und auch Airbus und Motorola sind hier vertreten. Der gerade erst modernisierte Hafen steht an zehnter Stelle in der Welt in Sachen Containerumschlag.
Und ausgerechnet hier, in diesem Schaufenster des boomenden Chinas, gab es eine Katastrophe mit weit über hundert Toten, mit Hunderten Verletzten. Jetzt tut sich nicht nur ein physischer Abgrund am Krater der Explosion auf. Sichtbar wird auch ein politischer Abgrund: Fehlende Kontrollen sowie Vetternwirtschaft zwischen den Behörden und politisch gut vernetzten Hintermännern des Unglücksunternehmens Ruihai Logistics machen mittlerweile viele für das Inferno von Tianjin verantwortlich.
Auch hinter den Glitzerfassaden des hypermodernen Chinas scheinen gute Beziehungen wichtiger zu sein als Vorschriften und Gesetze. Die lassen sich ohnehin nur schwer einklagen. Das können über hundert Bürgerrechtsaktivisten, -anwälte und deren Mitarbeiter bezeugen, die die Polizei erst im vergangenen Monat in einer beispiellosen Kampagne festgenommen oder einbestellt hatte.
Dammbruch im Internet
Mut macht, was offizielle chinesische Experten im Zeitalter der sozialen Medien eine "Krise der öffentlichen Meinung" nennen: Innerhalb von 24 Stunden nach dem Unglück wurde eine Viertel Million Nachrichten über die Explosion des Chemikalienlagers veröffentlicht. Die chinesischen Netizens sorgten selbst für schnelle und umfassende Information. Umgekehrt aber: Während alle Welt Bilder und Fotos der Detonation sah, sendete der Fernsehsender von Tianjin koreanische Seifenopern und diskreditierte sich vollends als Informationsmedium.
Chinesische Journalisten schwärmten aus und stellten unangenehme Fragen nach dem Wie und Warum des Desasters, nach der Qualität des Krisenmanagements. Schnell kam heraus, dass die geforderten Mindestabstände des Lagerhauses zu Wohnhäusern nicht eingehalten worden waren, dass deren Bewohner nichts ahnten von der gefährlichen Nachbarschaft, dass mehr als das Zehnfache der zugelassenen Menge an hochgiftigem Natriumcyanid in dem Lagerhaus gestapelt wurde, dass die Feuerwehrleute nicht wussten, was in dem Gebäude lagerte - und vielleicht durch den Einsatz von Löschwasser mit beitrugen zum Ausmaß der Katastrophe.
Die Staatspartei reagierte mit alten Mustern: Mehr als 50 Webseiten wurden geschlossen. Die Medien wurden verdonnert, zum Thema Tianjin ausschließlich freigegebenes Material der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua zu verwenden. Alte Muster auch bei deren Berichterstattung: Heldengeschichten von Feuerwehrleuten, beruhigende Worte von Offiziellen, Bilder von genesenden Opfern im Krankenhaus.
Sicherheit braucht Information
Im Fall von Tianjin kam das alles zu spät - der Ruf der Regierung hat Schaden genommen. Die öffentliche Empörung über Missmanagement einerseits und mangelnde Aufklärung andererseits hat ein Ausmaß erreicht, dass selbst das Parteiorgan "Volkszeitung" vorsichtig Kritik an der "schlechten Informationspolitik" übte.
Sicherheit und Information gehören zusammen. In China werden Informationen allerdings oft als Staatsgeheimnisse gehütet. Genauso gehören Sicherheit und unabhängige Interessenvertretungen zusammen. Chinas Arbeitsschutzbestimmungen zum Beispiel lassen nichts zu wünschen übrig. Das haben Internationale Arbeitsorganisationen bestätigt. Aber sie werden nicht eingehalten. Nicht nur wegen Nachlässigkeit. Auch weil keine unabhängigen Gewerkschaften sie durchsetzen können.
Der Ort der Katastrophe ist modern. Chinas Politik ist es nicht.
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