Das polarisierte Deutschland
Der 3. Oktober bot ein Vierteljahrhundert lang Anlass, darüber zu sinnieren, inwieweit sich die Lebensverhältnisse und Gefühlslagen in ehemals Ost und West angeglichen haben. Nichts schiene am Tag der Deutschen Einheit 2016 unangemessener.
Denn mit der Ankunft von rund einer Million Migranten seit Anfang vergangenen Jahres steht das Land heute vor Herausforderungen ganz neuer Qualität. Da wirkt die Frage, ob es sich im Erzgebirge inzwischen genauso gut leben lasse wie im Hunsrück, ziemlich aus der Zeit gefallen. Es ist auch kein Scheitern von Politik, wenn man sich endlich offiziell eingesteht, dass es strukturschwache Gebiete und Boom-Regionen sowohl im Westen wie im Osten gibt. Und dies auch auf Dauer so bleiben wird. Weil staatliches Geld allein eben nicht jeden Unterschied und jeden Nachteil ausgleichen kann.
Die größte Aufgabe seit der Deutschen Einheit
Die Kanzlerin weiß das, hat die Aufnahme und Integration dieser Vielzahl von Menschen schon vor Monaten folgerichtig als die größte Aufgabe seit der Deutschen Einheit bezeichnet. Doch mehr als das mantrahafte "Wir schaffen das!", das sie inzwischen selbst nicht mehr hören mag, kam bisher weder von ihr noch aus dem Mund des Bundespräsidenten.
Ja, der Staat hat inzwischen vieles geschafft, von der Unterbringung und Versorgung bis zur Registrierung der Angekommenen. (Ende September weiß der Bundesinnenminister endlich, wie viele es im vergangenen Jahr eigentlich waren.) Und er arbeitet mit allen Kräften daran, dass - so Angela Merkel - "sich eine solche Situation nicht mehr wiederholt". Was nichts anderes heißt, als dass man mit allen Mitteln (Gesetze, Abkommen mit anderen Staaten, anhaltenden Grenzkontrollen) versucht, sich so gut wie möglich abzuschotten. Worüber aber weder die Kanzlerin noch sonst jemand aus der Regierung öffentlich reden mag.
Doch die Integration der Angekommenen kann der Staat alleine nicht schaffen - dafür braucht es die ganze Gesellschaft: Nachbarn, die die neuen Nachbarn willkommen heißen; Lehrer, die junge Menschen mit besonderem Einsatz fordern und fördern; Ausbildungsbetriebe, die auch denen eine Chance geben, die vielleicht noch nicht perfekt deutsch sprechen. Doch auf genau solche Appelle wartet Deutschland bisher vergebens. Der 3. Oktober wäre eine gute Gelegenheit dafür!
Offener Hass in den Sozialen Medien
Und noch eine zweite Herausforderung ist seit Sommer vergangenen Jahres entstanden: Die deutsche Gesellschaft hat sich polarisiert wie nie zuvor in der jüngeren Vergangenheit. Die Wahlergebnisse der vergangenen Wochen machen nur im Ansatz deutlich, wie massiv sich derzeit die Koordinaten verschieben. Denn viel entscheidender als die heftigen Stimmenverluste von CDU und SPD und dem steilen Aufstieg der AfD ist die Rohheit, die sich Tag für Tag in den Sozialen Medien manifestiert.
Hier wird von zahllosen Personen - und nicht einmal im Schutz der Anonymität - Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung propagiert, von Aufständen gegen die herrschende Elite schwadroniert und natürlich auf das Übelste gegen ins Land Gekommenen gehetzt. Und natürlich bleibt das alles nicht folgenlos: da werden Flüchtlingsunterkünfte mit Brandsätzen und Steinen beworfen, Bürgermeister treten zurück, weil sie und ihre Familien bedroht werden und Politiker-Autos gehen in Flammen auf - auch das der AfD-Vorsitzenden. Die Feinde der Demokratie stehen zwar überwiegend, aber mitnichten ausschließlich rechts!
Dresden - weil Demokraten sich nicht verstecken dürfen
Dass die zentralen Feiern zum Tag der Deutschen Einheit in diesem Jahr in Dresden stattfinden, ist zwar dem föderalistischen Zufall zu verdanken, ist aber vielleicht auch Wink des Schicksals und eine Aufforderung: Dresden, die Stadt, in der schon Monate vor der Flüchtlingskrise die Pegida-Demonstrationen mit ihren "Merkel-muss-weg"-Rufen und dem symbolischen Galgen für die Kanzlerin tausendfachen Zulauf hatten. Die Stadt, in der in der vergangenen Woche Sprengsätze vor einer Moschee und einem Kongresszentrum explodierten.
Natürlich macht das Angst und deswegen wird die Einheitsfeier von einem nie dagewesenen Polizeiaufgebot geschützt. Und trotzdem müssen die Kanzlerin, der Bundespräsident und all die anderen politischen Spitzen an diesem Tag in genau diese Stadt: Um zu zeigen, dass die Demokratie nicht weicht und sich ihre Repräsentanten nicht verstecken. Sondern in Kontakt und im Gespräch mit den Bürgern dieses Landes sind. Vielleicht lässt sich dabei auch mal klären, warum eigentlich ausgerechnet in Dresden die Angst vor einer Islamisierung so groß ist.
Vor etwas mehr als 100 Jahren genehmigte die Stadt den Bau einer riesigen Zigarettenfabrik, die das Aussehen einer Moschee hat und seither zum Stadtbild gehört. Es wäre schön, wenn man den Mut und die Weltoffenheit des Jahres 1908 auch künftig wieder mit Dresden in Verbindung bringen könnte.
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