Kommentar: Das Machtgehabe des "großen Bruders"
12. Oktober 2006Wenn sich zwei halbstarke Jungs auf der Straße prügeln, sollten Erwachsene einschreiten. Insbesondere, wenn einer der beiden viel stärker ist als der andere. Was aber machen, wenn sich die Präsidenten zweier souveräner Staaten wie Halbstarke benehmen? Der eine heißt Michail Saakaschwili und ist Präsident von Georgien. Der andere Wladimir Putin, Präsident von Russland. Die Keilerei findet nicht auf der Straße, sondern auf oberster präsidialer Ebene statt. Über die Medien überziehen sich die Kontrahenten mit höchst undiplomatischen Beschimpfungen.
Dieses Possenspiel könnte man als lächerlich abtun, wäre Wladimir Putin nicht Präsident der Atommacht und selbsternannten Energie-Supermacht Russland. Russland ist mindestens dreißig Mal so groß wie das kleine Georgien. Warum hat sich Putin ausgerechnet Georgien als Gegner ausgesucht?
Maß aus den Augen verloren
Zwischen Russland und Georgien gibt es tatsächlich Probleme. Nach dem Zerfall der Sowjetunion versank Georgien im Chaos. Nach blutigen Konflikten haben sich die Teilrepubliken Abchasien und Südossetien von Georgien getrennt. Georgien beschwert sich seit langem, dass Russland die Separatisten nach Kräften unterstützt. Ende September wurden in Georgien fünf russische Armeeangehörige unter Spionageverdacht festgenommen und nach einigen Tagen an Russland ausgeliefert. Aber kein Problem, kein Konflikt zwischen den beiden ungleichen Gegnern ist so gravierend, dass er nicht durch vernünftige Verhandlungen beigelegt werden könnte.
Statt dessen ein Exportverbot für georgische Weine, dann eine demonstrative Evakuierung der russischen Botschaftsangehörigen aus Tbilissi - und nun eine Transportblockade. In den staatlich kontrollierten russischen Medien werden die in Russland lebenden Georgier pauschal zu Kriminellen gemacht. Die Polizei in Moskau fordert Schuldirektoren auf, Kinder mit georgischen Namen zu melden, um deren Eltern zu überprüfen. Bei den Russen kommt das an: Chauvinisten aller Couleur loben ihren Präsidenten Wladimir Putin, der endlich einmal hart durchgreift.
Russland bemitleidet sich selbst
Hier im Westen betrachtet man zwar mit Sorge die Entwicklung der jungen Demokratie in Russland, den autoritären Regierungsstil von Wladimir Putin. Aber das Vorgehen Putins wurde von allen Seiten damit entschuldigt, dass er eben ein kühler Pragmatiker sei. Die ersten Zweifel kamen nach dem absurden Gasstreit mit der Ukraine auf. Der Konflikt mit dem kleinen Georgien hat diese Zweifel noch verstärkt.
Wladimir Putin selbst hat einmal gestanden, er habe den Zerfall der Sowjetunion als größte Tragödie seines Lebens empfunden. Der unermessliche Reichtum an Dollars aus dem Erdöl- und Gasexport verstärkt nun die imperialen Phantomschmerzen der russischen Eliten. Sie können und wollen nicht realisieren, dass ehemalige Randrepubliken des Sowjetreiches, wie etwa die Ukraine, die Moldau oder Georgien, jetzt souveräne Staaten sind - dass sie gar die Mitgliedschaft in der EU und der NATO zum Ziel ihrer Politik erklären. Mögen das auch ferne und ungewisse Zukunftspläne sein - hinter allem wittert man im Kreml die böswillige Hand Washingtons.
Überreaktion
Aber Phantomschmerzen können nicht die Grundlage für eine konstruktive Außenpolitik sein. Dieser Konflikt mit Georgien ist verheerend: Verheerend für die russische Innenpolitik, denn Fremdenhass ist leicht zu schüren, aber schwer einzudämmen. Verheerend auch für das Image Russlands in der Welt. Wie verlässlich kann ein internationaler Partner sein, der sich in der Außenpolitik zu solchen Überreaktionen verleiten lässt?
Halbstarke mögen sich prügeln und anpöbeln. Aber Russland empfängt als Gastgeber die Staats- und Regierungschefs der G8. Russland ist ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der UNO. Russland ist ein riesiges und starkes Land, das internationale Verantwortung zu tragen hat.
Alexander Warkentin
DW-RADIO/Russisch, 6.10.2006, Fokus Ost-Südost