Fast könnte man Mitleid haben mit Boris Johnson, wenn man mitansehen muss, wie er sich unter den Fragen von Keir Starmer, der seit wenigen Wochen den Vorsitz der Labour-Partei innehat, windet: "Wir haben die höchsten Todeszahlen in Europa, die zweithöchsten in der Welt - wie um Himmels willen konnte es dazu kommen?"
Der neue Labour-Vorsitzende ist höflich, klar, und trifft punktgenau direkt ins Herz der Sache. Großbritannien habe sich zu spät entschlossen, Ausgangssperren zu verhängen, hänge mit dem Testen und dem Überwachen des Virus hinterher, vernachlässige das Pflegepersonal in Krankenhäusern und Altenheimen, weil es ihnen nicht ausreichend Schutzkleidung zur Verfügung stelle.
Ein Gute-Laune-Bär, kein Krisenmanager
Für internationale Vergleiche sei es zu früh, die Zahlen seien noch nicht endgültig, verteidigt sich Johnson, und beschwört den "guten, soliden britischen Menschenverstand". Aber das nützt ihm nichts. Die Fragen Starmers gleichen einem Verhör, er hat sein Handwerk als ehemaliger Generalstaatsanwalt gelernt - innerhalb von wenigen Minuten legt er in der wöchentlichen Fragestunde "Prime Ministers Questions" die Schwächen Johnsons bloß.
Fast ausnahmslos wird dabei klar, wie wenig sich Johnson vorbereitet. Seine Stärken liegen nicht im Detail: Er ist ein Meister des Showmanship, ein Gute-Laune-Bär mit flotten Formulierungen, den die Briten wählten, weil sie nach der endlosen Diskussion um den Brexit zermürbt waren, sich sehnten nach Optimismus und Aufbruchsgeist.
Als Krisenmanager dagegen versagt der Premier. Er ist kein besonnener Staatslenker mit Weitblick und gesundem Menschenverstand. Er ist impulsiv, unvorsichtig, und das hätte ihn fast das Leben gekostet. Noch Anfang März, als die Krise bereits den Kontinent erschütterte, erklärte Johnson stolz, er habe kürzlich in einem Krankenhaus sehr vielen Menschen die Hände geschüttelt, darunter auch Corona-Patienten. Großveranstaltungen wie Rugby-Spiele ließ er weiterhin stattfinden, besuchte sogar noch eines - gemeinsam mit seiner schwangeren Partnerin. Auf die Frage einer Journalistin, wie er sich denn selbst schütze, lächelte er spöttisch. Kurze Zeit später war er selbst schwer krank, musste im Krankenhaus ans Sauerstoffgerät.
Der Versuch, anfängliche Versäumnisse aufzuholen
Wenn er die Gefahr bis dahin nicht ernst genommen hatte, so änderte sich das durch seinen Kampf mit der Krankheit. Hastig versuchte die britische Regierung in den vergangenen Wochen, ihre Versäumnisse aufzuholen. Aber genügend Schutzkleidung für Ärzte und Pflegepersonal gibt es noch immer nicht, über 100 von ihnen starben schon. In den Altenheimen wütete die Pandemie wochenlang fast ungehindert, kostete bisher fast 10.000 alte und schwache Menschen das Leben. Und auch bei den Tests gibt es noch immer große Schwierigkeiten.
Das Virus bringt riesige Herausforderungen mit sich - für jede Regierung. Und es gibt auch Erfolge in Großbritannien, wie zum Beispiel die sogenannten Nightingale Krankenhäuser, die mit Hilfe der Armee innerhalb von wenigen Wochen aus dem Boden gestampft wurden (dass man sie am Ende kaum brauchen würde, konnte niemand wissen). Auch hielt das öffentliche Gesundheitssystem dem Druck durch das Virus zum größten Teil stand, nicht zuletzt dank dem selbstlosen Einsatz des Personals, das sich Mund- und Augenschutz aus Baumärkten besorgte, und sich aus Müllbeuteln selbst Schürzen zurechtschnitt.
Auch die Lockerungen werfen Fragen auf
Nun geht die Zahl der Neuerkrankungen zurück, und die Ausgangssperre wird gelockert. Aber weil am Anfang so viele Fehler passierten, ist die Regierung nun vorsichtig. Neidisch blicken viele Briten auf den Kontinent, wo inzwischen Restaurants und Hotels sukzessive öffnen, die Menschen eventuell sogar von einem Urlaub in den Bergen oder im Süden träumen können. Für die Briten scheint ein Urlaub im Ausland ausgeschlossen. Man weiß nicht einmal, ob es für einen Urlaub am Kieselstrand eines diesigen englischen Küstenstreifens reichen wird.
Aber auch die Lockerungen in Großbritannien werfen mehr Fragen auf, als Klarheit zu schaffen. Warum zum Beispiel gibt es keine Pflicht, sondern nur einen freundlichen Ratschlag, in öffentlichen Verkehrsmitteln Masken zu tragen? In den Sozialen Medien tauchen nun Videos aus, in denen Pendler auf engstem Raum zusammensitzen, und nur jeder Zweite eine Maske trägt. Warum dürfen Putzfrauen und Nannies wieder ihre Arbeit aufnehmen, aber Großeltern ihre Enkelkinder nicht sehen? Die Anweisungen der Regierung blieben vage, zum Teil widersprüchlich.
Selbst die Johnson-Fans wenden sich ab
Auch dass Johnson mit Lockerungen vorpreschte, ohne sich mit Schottland, Wales und Nordirland abzustimmen, und deshalb in England nun andere Regeln gelten als im Rest des Landes, fiel unangenehm auf. Sogar ausgewiesene Johnson-Fans unter den konservativen Kommentatoren wenden sich nun gegen die Regierung - ihr Umgang mit der Krise sei eine Katastrophe, stand jüngst im der Johnson-Fan-Postille "Daily Telegraph".
Erst vor einem guten halben Jahr hat Boris Johnson die Wahlen gewonnen, mit einer deutlichen Mehrheit sitzt seine Regierung fest im Sattel. Keir Starmer wird noch viele Gelegenheiten haben, sein Gegenüber zu entlarven.