An diesem Mittwoch beraten die Richter des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg über ein Kernelement der europäischen Identität - die Religionsfreiheit. Und Juden und Muslime in Deutschland fürchten um deren Bestand, ja um ihren langfristigen Verbleib in Europa.
In der Rechtssache C 336/19 geht es um das religiöse Schächten, das rituelle Schlachten von Tieren ohne vorherige Betäubung. Seit 2019 ist das in Teilen Belgiens verboten, zunächst in Flandern, inzwischen auch in Wallonien. Nach den Gesetzgebungsverfahren fragte das belgische Verfassungsgericht beim EuGH an, ob das strikte Verbot des Schächtens mit der EU-Grundrechtecharta und der dort garantierten Religionsfreiheit vereinbar sei. Nun folgt die Verhandlung in Luxemburg. Entscheidungen zu ähnlichen Sachfragen lassen durchaus offen, ob der Europäische Gerichtshof der Religionsfreiheit hier Vorrang einräumt.
Religionen nicht mehr willkommen?
Wohl nie zuvor haben die Europäische Rabbinerkonferenz und die Muslimische Weltliga gemeinsam in einer solch sensiblen und wichtigen Sache gesprochen. Erstmals überhaupt äußern sich die beiden Spitzenvertreter, Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt und der Generalsekretär der Weltliga, Scheich Mohammed Al-Issa, unter einem gemeinsamen Briefkopf. Beide sehen in dieser Sache eben die Ausübung ihrer Religion bedroht.
"Wenn die belgischen Verbote aufrechterhalten werden, ist die Botschaft, die der Europäische Gerichtshof an die religiösen Minderheitengemeinschaften in Europa sendet, klar: 'Sie sind nicht willkommen.' ", heißt es unter anderem. Und: "Wir können nicht erwarten, dass Religionsgemeinschaften in Europa bleiben und einen Beitrag für die hiesigen Gesellschaften leisten, wenn der bloße Akt ihres Nahrungsmittelkonsums als ein Verbrechen betrachtet wird."
Klar, man kann dieses Votum auch übergehen: Warum sollte uns die Meinung eines orthodoxen Rabbiners aus Moskau und eines saudischen Islam-Vertreters interessieren? Aber das übersieht, wie sehr beide seit Jahren den Dialog mit ganz unterschiedlichen Seiten suchen und dabei alten Feindbildern abgeschworen haben. Letztlich zeigt sich da eine Bewegung, die globale Relevanz hat und die leider von den wenigsten Politikern ausreichend begleitet oder auch nur wahrgenommen wird. Das ist ein Themenfeld, das sowohl auf nationalstaatlicher als auch auf europäischer Ebene nur wenige wirklich interessiert.
Stellenwert der Religionsfreiheit sinkt
Einen wesentlichen Anstoß für die europäische Idee, den Einigungsprozess gaben nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem engagierte Christen: Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Robert Schuman. In ihrem Europa waren Religion und Religionsfreiheit selbstverständlich. Und nun? Vor wenigen Wochen verkündete die neue EU-Kommission unter der Deutschen Ursula von der Leyen, auf einen EU-Sonderbeauftragten für die Religionsfreiheit weltweit künftig zu verzichten. Und in Istanbul - ein weiteres Beispiel - steht die Hagia Sofia, das Wahrzeichen der weltweiten orthodoxen Christenheit, Weltkulturerbe und seit Jahrzehnten ein Museum, kurz vor der Übernahme durch den Erdogan-Islam der Türkei. Kritische Stimmen aus der EU-Spitze? Aus Berlin oder Paris? Fehlanzeige! Da zeigt sich: Der jetzige Verhandlungsgegenstand der EuGH-Richter gehört in einen größeren Rahmen.
Goldschmidt und Al-Issa, der Jude und der Muslim, erinnern in ihrem an Deutlichkeit kaum zu überbietenden Appell an Zeiten, in denen religiöse Speisevorschriften (zu denen das rituelle Schlachten gehört) nicht mehr praktiziert werden durften. Da kommt der Verweis auf Verbote vor dem Zweiten Weltkrieg, "durch die jüdische Gemeinden in ganz Europa an den Rand gedrängt wurden". Wir alle wissen, wie die Geschichte weiterging.
"Verstoß gegen Kernprinzipien Europas"
"Obwohl die Religionsfreiheit in den Demokratien Europas als ein Grundrecht verankert ist, ist sie bedeutungslos, wenn Einzelpersonen und Gemeinschaften nicht die Freiheit haben, ihre Religion auszuüben", mahnen die Religionsvertreter. Und wer Muslimen das Halal-Essen oder Juden das koschere Essen verbieten wolle, "verstößt gegen die Kernprinzipien, für die Europa stehen sollte."
Die Beratungen der Luxemburger Richter sind das eine (und gerichtliche Urteile als Auslegung geltenden Rechts sind zu respektieren) - das Handeln politischer Entscheidungsträger ist das andere. Dann bedarf es eben einer deutlichen Klarstellung der Religionsfreiheit und klärenden Ausnahmeregelungen dergestalt, dass betäubungsloses Schlachten in religiösem Kontext zu bewilligen ist. Denn die ungewöhnliche und ungewöhnlich deutliche Mahnung der ranghohen religiösen Repräsentanten ist ein Weckruf für ein müdes und sich selbst genügendes Europa.