Kommentar: Bestätigung für alle Seiten
30. September 2009Die Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini und ihr internationales Team haben ausgezeichnete Arbeit geleistet. In ihrem heute in Brüssel vorgestellten Bericht über die Ursachen und den Verlauf des russisch-georgischen Fünf-Tage-Krieges im August 2008 kommen sie zu einem überzeugenden, weil differenzierenden Ergebnis: Den Krieg begonnen hat in der Nacht vom 7. auf den 8. August Georgien, Russland trägt aber durch monatelange Provokationen eine erhebliche Mitschuld und hat sich im Verlauf des Krieges völkerrechtswidrig verhalten. Der Europäischen Union, die auf Vorschlag des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier im Dezember 2008 diesen unabhängigen Untersuchungsbericht in Auftrag gegeben hat, wird auch kein einwandfreies Zeugnis ausgestellt: Die EU habe zu spät und zu zaghaft versucht, den ab Frühjahr 2008 schwelenden Konflikt abzuwenden.
Geteilte Zustimmung
Trotz dieses ausgewogenen Ergebnisses dürften die Meinungsverschiedenheiten über den russisch-georgischen Krieg bestehen bleiben. Zwar konnte die mit hochrangigen Experten für den Kaukasus besetze Kommission bei ihren Recherchen in Moskau, Tiflis, Zchinwali und Suchumi mit fast allen wichtigen Akteuren des Krieges sprechen, doch die Interpretationen des Berichts sind unterschiedlich. Jede Seite sieht sich durch den Bericht in begrenztem Maße bestätigt.
Zwar ist es für die georgische Führung um Präsident Micheil Saakaschwili enttäuschend, dass der Bericht die georgische These nicht bestätigt, wonach der Angriff auf Südossetien eine Reaktion auf einen russischen Vormarsch gewesen sei. Dennoch kann sich Georgien darauf berufen, dass Russland durch monatelange Provokation den Konflikt verschärft und nun völkerrechtswidriges Verhalten attestiert bekommen hat. Dies werden auch die ostmitteleuropäischen Unterstützer von Saakaschwili - Polen, die baltischen Staaten und die Ukraine - aus dem Bericht herauslesen. Sie sehen sich durch das aggressive und aus ihrer Sicht imperialistische Verhalten Russland nicht zuletzt in ihrer eigenen Sicherheit bedroht.
Mit anderem Vorzeichen, aber in ähnlicher Art nimmt auch der Kreml den Untersuchungsbericht auf. Denn die russische Führung weist mit Genugtuung darauf hin, dass nach dem Bericht Georgien den Krieg begonnen habe. Provokationen und völkerrechtswidriges Verhalten weist Moskau aber weit von sich. Auch wird man in der russischen Öffentlichkeit weiterhin die These hören, dass US-Diplomaten angeblich Saakaschwili in seinem militärischen Abenteuer unterstützt hätten, obwohl der Bericht diese Behauptung nicht bestätigt.
Politische Folgen des Berichts
Konkret dürften die Folgen des soliden und detaillierten Berichts daher gering sein. Weder ist zu erwarten, dass Russland seine bisherige Haltung überdenkt und die diplomatische Anerkennung Südossetiens und Abchasiens zurücknimmt. Noch kann man davon ausgehen, dass Georgien seinen Anspruch auf die umstrittenen Regionen aufgibt, selbst wenn die Person Saakaschwili innenpolitisch durch den Bericht in Bedrängnis geraten könnte. Der Konflikt ist eingefroren und im besten Fall kommt es nicht zu einer erneuten militärischen Auseinandersetzung.
Aber auch an den unterschiedlichen Meinungen der EU-Staaten über die europäische Russland- und Ostpolitik wird der Bericht wenig ändern: Insbesondere Polen und die baltischen Staaten werden weiterhin eine skeptische Haltung gegenüber Russland einnehmen und eine Vertiefung der russisch-europäischen Partnerschaft eher ablehnen. Vielmehr werden sie die Annäherung Georgiens und auch der Ukraine an die NATO fordern. EU-Staaten wie Deutschland, Frankreich und Italien werden allein wegen Georgien ihre Russlandpolitik nicht vollständig überdenken. Dazu ist Russland bei internationalen Fragen wie Weltwirtschaftskrise, Iran und Nordkorea einfach ein zu wichtiger Gesprächspartner.
Dennoch sollte der Bericht in der EU eine intensive Diskussion initiieren, wie den nach Westen strebenden ehemaligen Sowjetrepubliken bessere Sicherheitsgarantien vor einem revisionistisch agierenden Russland gegeben werden können. Andernfalls wird die hervorragende Arbeit der Untersuchungskommission nur als ein Beitrag für die europäische Geschichtsschreibung in Erinnerung bleiben.
Autor: Ingo Mannteufel, Leiter der Russischen Redaktion
Redaktion: Oliver Samson