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Arabische Welt im Rückwärtsgang

Rainer Sollich2. Dezember 2014

Die meisten Herrscher in der Region profitieren von Terror, Gewalt und Instabilität - und versperren deshalb den Weg für notwendige Reformen, meint Rainer Sollich.

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Proteste gegen Assad in Syrien (Foto: ap)
Bild: AP

Als die Arabische Welt vor drei Jahren zur großen Protestwelle ansetzte, lautete die meistgehörte Parole: "Das Volk will das Regime stürzen!" Das war der kleinste gemeinsame Nenner. Viele Demonstranten in Kairo, Damaskus oder Bengasi erhoben zwar auch konkretere Forderungen nach Menschenwürde, Gerechtigkeit, Partizipation und einem Ende der Unterdrückung. Aber eine klare, große und verbindende Vision fehlte den Protestbewegungen ebenso wie den bedrängten Regimen. Alles konzentrierte sich auf die Machtfrage: Die Menschen wollten die Regime stürzen - die Regime boten alle Kräfte auf, an der Macht zu bleiben.

Das vorläufige Ergebnis dieses Prozesses ist niederschmetternd. Fast alle Regime haben überlebt. Und dort, wo sie weichen mussten, ist die Lage für die Menschen in fast allen Fällen sogar noch viel schlimmer geworden: Nicht nur Syrien und Irak werden in großen Teilen vom Terror heimgesucht und drohen dauerhaft zu zerfallen. Auch Libyen und Jemen sind in Gefahr, an inneren Konflikten und Terror auseinanderzubrechen. Der "Islamische Staat" (IS), Al-Kaida und andere Terrorgruppen erscheinen stärker und gefährlicher denn je und haben keinerlei Probleme, Nachwuchs zu rekrutieren. Grausamste Formen der Gewalt und Demütigung werden hemmungslos praktiziert und via Twitter und YouTube in einer perversen Geste des Triumphs vor der Weltöffentlichkeit inszeniert.

Porträt von Rainer Sollich (Foto: DW/P. Henriksen)
Bild: DW/P. Henriksen

Staatsgrenzen lösen sich auf

Staatsgrenzen, die einst von den westlichen Kolonialmächten ohne nähere Rücksicht auf lokale Loyalitäts- und Herrschaftsstrukturen gezogen wurden, stehen derweil offen zur Disposition: Politikwissenschaftler debattieren bereits darüber, ob Irak und Syrien zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt noch als "Staaten" bezeichnet werden können. Immerhin stehen beträchtliche Teile ihrer Territorien unter Kontrolle von Jihadisten oder anderen Gruppen und auch der Ruf nach einem kurdischen Staat ist wieder auf die Tagesordnung gerückt. Ausgang völlig offen.

Die Arabische Welt hat erkennbar den Rückwärtsgang eingelegt. Wer heute einen Blick auf die politische Landkarte dort wirft, entdeckt im wesentlichen zwei Tendenzen: Erstens Staaten, in denen Terror, Krieg und Zerfall herrschen. Und zweitens Diktaturen, die mehr denn je auf Repression setzen - wie Ägypten oder die Mehrzahl der Golfstaaten. Dadurch wird ein schlimmes Vorurteil wiederbelebt: Demnach sind die arabischen Völker "nicht reif" für die Demokratie und könnten in ihrer konfliktreichen Region nur mit eiserner Faust "unter Kontrolle" gehalten werden - ein Argument, mit dem schon frühere Despoten wie Husni Mubarak oder Muammar Al-Ghaddafi ihren Herrschaftsanspruch untermauert hatten, oftmals mit stillem westlichen Einverständnis.

Unfähig zur Demokratie?

Dieses "Argument" ist arrogant und rassistisch. Wahr ist jedoch, dass aufgrund der verkrusteten Macht- und Gesellschaftssysteme in weiten Teilen der Arabischen Welt tatsächlich sehr ungünstige Voraussetzungen für Demokratisierung und Modernisierung herrschen: Vielerorts hat sich kaum eine Mittelschicht herausgebildet, die in Europa und anderen Weltregionen häufig Motor von gesellschaftlichen Veränderungen gewesen ist. Die arabischen Bildungssysteme sind völlig unzureichend und hoffnungslos marode, selbst in den reichen Golfstaaten. Und ein ungebrochen starkes Bevölkerungswachstum in Kombination mit fehlenden Wirtschaftsreformen lässt erwarten, dass es in vielen Ländern auch künftig zahlreiche frustrierte junge Menschen ohne Arbeit und ohne Perspektiven geben wird. Religion und ethnische Zugehörigkeit sind in einem solchen Klima sehr einfach instrumentalisierbar, um Menschen zu radikalisieren oder gegeneinander aufzuwiegeln.

Davon profitieren nicht nur Extremisten und Terroristen - sondern auch Arabiens autoritäre Herrscher. Sie benötigen Terror und Gewalt zur eigenen Herrschaftslegitimation und sind - Beispiel Syrien, Beispiel Golfstaaten - auch nicht selten an dessen Entstehung beteiligt. Der fortschreitende Niedergang in der Arabischen Welt liegt deshalb weder an den Menschen noch an ihren Stammeszugehörigkeiten oder religiösen Bekenntnissen. Das Hauptproblem der Region liegt vielmehr im mangelnden Reformwillen derer, die dort seit Jahrzehnten herrschen. Nur wenige Länder wie Tunesien und mit vielerlei Einschränkungen auch Marokko lassen ernsthafte Reformanstrengungen erkennen. Die meisten Könige, Emire und durch Scheinwahlen "legitimierte" Präsidenten halten hingegen eisern an ihren überlebten Machtstrukturen fest. Sie unterdrücken nicht nur Islamisten, sondern auch liberale und demokratische Kräfte. Dadurch produzieren sie zwangsläufig neue Unzufriedenheit, neue Gewalt und neue Instabilität. Die nächste arabische Protestwelle ist deshalb vielleicht nur eine Frage der Zeit. Und es steht zu befürchten, dass sie abermals kein "Frühling" sein wird.