Merkels Chance für die Zukunft der EU
Mitte März, als sich das Coronavirus mit großer Wucht in Europa ausbreitete, warnte Angela Merkel eindringlich: Dies sei die größte Herausforderung, vor der die EU jemals gestanden habe. Jetzt, da die Mitgliedsländer wieder die Grenzen öffnen und die Beschränkungen aufheben, konzentriert sich alles auf die wirtschaftliche Erholung. Wenn es ein Land gibt, das in der Lage ist, die zur Stabilisierung Europas notwendige fiskalische Kooperation zu initiieren, dann sind es Deutschland und seine Kanzlerin Angela Merkel.
Das mag paradox erscheinen, da Berlin bisher jeden Vorschlag abgelehnt hat, die Schulden und Risiken zwischen den sparsamen nördlichen und den überforderten südlichen EU-Mitgliedern zu vergemeinschaften.
Deutschland kam bisher gut durch die Krise
Europas größte Volkswirtschaft hat den ersten Kampf mit COVID-19 relativ gut überstanden: Ökonomen schätzen, dass das BIP Deutschlands um 6,6 Prozent schrumpfen wird, verglichen mit über elf Prozent für Italien und Spanien. Warum also sollte es sein Vermögen enger an diese Länder binden?
Deutschland sollte dies tun, weil in der halbfertigen Union Europas diese Vermögen ohnehin bereits untrennbar miteinander verflochten sind. Was dieses Land in so einzigartiger Weise prädestiniert, eine Einigung über weitreichende Reformen zu vermitteln, ist nicht sein Wohlstand, sondern seine Offenheit: Deutschlands Wirtschaft ist vom Export abhängig, fast 70 Prozent seines Handels betreibt es mit dem übrigen Europa. Wenn Spanien oder Italien husten, bekommt Deutschland das Zittern.
Eine Krisen-Präsidentschaft
Im Mai hat Deutschland seine ursprünglichen Ziele über Bord geworfen und anerkannt, dass eine "Corona-Präsidentschaft" unabdingbar ist.
Und nachdem sie den französischen Präsidenten Emmanuel Macron jahrelang auf Distanz gehalten hat, arbeitet Merkel nun mit ihm zusammen, um den verrosteten deutsch-französischen Motor wieder in Schwung zu bringen. Als die beiden ihren Plan für einen Rettungsfonds in Höhe von 500 Milliarden Euro ankündigten, räumte sie in charakteristisch untertreibender Weise ein, dass dies ein "ungewöhnlicher Schritt" sei und sagte: "Wir müssen europäisch handeln, um gut und gestärkt aus dieser Krise hervorzugehen".
Nicht nur ungewöhnlich, sondern bahnbrechend ist der Vorschlag der beiden Politiker, den Fonds dadurch zu finanzieren, dass die EU-Kommission auf den Finanzmärkten Kredite aufnehmen kann - ein bisher undenkbarer Schritt in Richtung Gemeinschaftsschulden. Der deutsche Finanzminister Olaf Scholz erinnerte an den Durchbruch, der 1790 die fiskalische Integration der USA einleitete: Auf Initiative von US-Finanzminister Alexander Hamilton wurde der Regierung in Washington erlaubt, die von den Bundesstaaten aufgenommenen Schulden aus dem Revolutionskrieg zu übernehmen und durch die Ausgabe von Bundesanleihen zu finanzieren.
Wie eine echte Finanzunion erreichen?
Die EU-Kommission kündigte daraufhin ein eigenes Wirtschaftsprogramm an, das auf dem Macron-Merkel-Plan aufbaut. Seitdem gab es viele Diskussionen darüber, ob all dies wirklich zu einem "Hamilton-Moment" führen könne. Skeptiker auf beiden Seiten sagen, dass die Initiative weit hinter einer echten Finanzunion und damit dem "Big Bang", der durch Hamiltons Vorstoß ausgelöst wurde, zurückbleibe.
Damit wird der Charakter dessen, was Hamilton in Gang gesetzt hat, grundlegend falsch interpretiert. Die fiskalische Integration der Vereinigten Staaten war nicht revolutionär, sondern evolutionär. Sie wurde geprägt durch jahrzehntelanges, oft erbittertes Feilschen. Die Solidarität unter den amerikanischen Bundesstaaten sowie zwischen ihnen und der Bundesregierung bleibt - wie auch die Corona-Krise wieder deutlich zeigt - eine ständige Herausforderung.
Der Hamilton-Kompromiss
Beim Aufbau der US-Finanzverwaltung ging es genauso um eine höhere Kreditwürdigkeit wie um die erfolgreichere Ausgabe von Anleihen. Hamilton sah voraus, dass sie den Grundstein für eine kollektive fiskalische Identität legen und die Vereinigten Staaten nicht nur im Land selbst sondern auch im Ausland stärken würde, indem sie ihre Märkte und ihre Anleihen für Investoren attraktiver machen würde, als es die Schulden eines einzelnen US-Bundesstaates je sein könnten.
Das gleiche gilt für Europa heute: Wenn es wirklich danach strebt, ein Gegengewicht zum aufstrebenden China und den zurückweichenden USA zu werden, dann ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, ernsthaft mit der Integration zu beginnen.
Warum jetzt der richtige Zeitpunkt ist
Merkel sagt die richtigen Dinge, aber können wir von dieser bisher so vorsichtigen Politikerin wirklich mutiges Handeln erwarten?
Die Antwort ist ja, und zwar aus drei Gründen. Erstens, weil der Einsatz höher gar nicht sein könnte. Die Chefin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, prophezeite neulich vor dem Europäischen Parlament: Wenn der durch Corona verursachte Schaden die Kluft zwischen den nördlichen und südlichen Mitgliedsländern vergrößere, sei die Existenz der Europäischen Union gefährdet.
Zweitens sind die Umstände vielversprechend. Das politische Kapital der Kanzlerin war selten höher; der Umgang Deutschlands mit Corona hat das Vertrauen in die Regierung im Allgemeinen und in Merkel im Besonderen gestärkt. Als Ratspräsidentin wird die Kanzlerin mit ihrer langjährigen Vertrauten zusammenarbeiten, der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Drittens, und das ist der wichtigste Punkt: Der Zeitpunkt ist der Richtige. Während sie sich auf ihren Rückzug aus der Politik vorbereitet, hat Merkel eine letzte Gelegenheit, ihr Erbe zu gestalten und ihre bisher durchaus ambivalente EU-Bilanz neu zu schreiben. 70 Jahre nachdem der französische Außenminister Robert Schuman Geschichte gemacht hat, indem er für eine gemeinsame Verwaltung der französischen und deutschen Kohle- und Stahlproduktion vorgeschlagen hat, kann die Kanzlerin Schumans Vision auf die nächste Stufe heben. "Europa wird nicht auf einmal oder nach einem einzigen Plan geschaffen werden", sagte Schuman im Mai 1950. "Es wird durch konkrete Errungenschaften aufgebaut werden".