Adalet - die neue Opposition in der Türkei
Ausgerechnet Kemal Kilicdaroglu. Ausgerechnet ihm, dem 68-jährigen älteren Herrn mit dem Charme und dem Kleidungsstil eines pensionierten Verwaltungsbeamten ist etwas gelungen, woran wohl nur noch die optimistischsten Geister der türkischen Opposition geglaubt hatten.
Was war der Anführer der CHP, der größten Oppositionspartei in der Türkei, noch vor wenigen Wochen belächelt worden. "Notfalls alleine" - so damals seine Worte - wolle er sich auf den Weg machen, wolle ein Zeichen setzen gegen die Verurteilung seines Parteifreundes Enis Berberoglu.
Drei Wochen zu Fuß nach Istanbul
"Adalet", "Gerechtigkeit" taufte Kilicdaroglu seinen Marsch. Von der Hauptstadt Ankara ging es drei Wochen lang zu Fuß knapp 450 Kilometer in teils brütender anatolischer Hitze gen Westen nach Istanbul. Der Einmarsch in die Metropole, die Abschlusskundgebung vor hunderttausend begeisterten Anhängern direkt am Bosporus - geriet zum eindrücklichen Bekenntnis zu den säkularen Werten der türkischen Republik und Staatsgründer Kemal Atatürk.
Kilicdaroglu, wie gewohnt das weiße Kurzarmhemd akkurat in die Baumwollhose gesteckt, als Mann der Stunde von einigen schon zum türkischen "Ghandi" hochgejubelt, versprach von der Bühne: "Alle anti-demokratischen Praktiken in der Türkei" müssten ein Ende finden.
Der Satz erfreut, denn die kemalistische CHP hat selbst Anteil an der Verringerung demokratischer Werte in der Türkei. Auch mit den Stimmen der CHP hatte das türkische Parlament im vergangenen Jahr die Aufhebung der Immunität zahlreicher Abgeordneter beschlossen, zahlreiche Parlamentarier wanderten daraufhin ins Gefängnis.
Nur eine geeinte Opposition hat eine Chance
Kilicdaroglu verzichtete beim Gerechtigkeitsmarsch dezidiert auf Parteisymbolik. Das war clever. Das ist nötig. Will er seinen Zielen näher kommen, braucht er die Unterstützung der beiden anderen Oppositionsparteien im Parlament. Eine solche geeinte Opposition der Kemalisten der CHP, der Kurden der HDP und der Ultranationalisten der MHP wäre ein Novum in der einhundertjährigen Geschichte der Türkei.
Schwierige Zeiten liegen vor Kilicdaroglu und seinen Unterstützern. "Erst der Anfang" sei der Gerechtigkeitsmarsch gewesen - so Kilicdaroglu zum Ende des Protestmarsches in Istanbul. Genau das ist es gewesen. Ein Anfang. Ein beeindruckender Anfang einer Bewegung, die die niedergeschlagene Opposition in der Türkei wieder aufrichten könnte und den demokratischen Checks und Balances zu neuer Stärke verhelfen könnte. Und ausgerechnet er, ausgerechnet der mausgraue Politikverwalter Kemal Kilicdaroglu, hätte den Stein ins Rollen gebracht.
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