Kolumne: Weihnachtmärkte in Berlin
4. Dezember 2016"Oh du fröhlicher Weihnachtsmarkt", könnte die inoffizielle Berliner Weihnachtshymne heißen. Rund 100 davon soll es hier geben, schreibt die Berliner Zeitung B.Z. So viele wie in keiner anderen deutschen Stadt.
Weihnachtliche Enteignung Berliner Plätze
Für mich als Weihnachtsmarktmuffel fühlt sich das eher unfröhlich an. Wie eine schleichende Enteignung der schönsten Berliner Plätze und Boulevards durch den kommerziellen Weihnachtswahn. Keine weihnachtsfreie Zone scheint es mehr zu geben, jedes freie Fleckchen ist "verweihnachtet". Neben dem Touri-Magneten am Gendarmenmarkt, der alljährlich mehr als 800.000 Menschen anzieht, haben sich die Märkte in vielen Kiezen breit gemacht. Und jeder Markt will etwas besonders sein: Am Kollwitzplatz feiert man faire Weihnachten. Dank fair gehandelter Wurst setzt man dort politisch-korrekten Weihnachtsspeck an. Neukölln bietet dagegen den höchstgelegenen Weihnachtsmarkt Berlins - auf der windigen Dachterrasse eines Parkhauses. Gut für den Glühweinkonsum. Auch die Gemeinden der Briten, Dänen und Schweden gehen mit eigenen Märkten an den Start. Und wer gegen Glühweinschwaden und Mandelduft Allergien entwickelt hat, für den könnte die coole Clubatmosphäre beim "Holy Shit Shopping" am Ostbahnhof etwas sein. Doch auch für diese weihnachtliche Coolness kann ich mich nicht erwärmen.
Attraktion Weihnachtsmarkt im Christmas Garden
Für unseren Besuch aus Köln klingt die Zahl 100 imposant. Nun ja, Köln käme nur auf 50, bedauert der bekennende Weihnachtsmarktliebhaber.
Und es kommt, wie es nicht kommen sollte: Am Abend machen wir uns auf zu einer neuen Berliner Weihnachtsattraktion, dem "Christmas Garden". Nach gefühlt endloser Autofahrt durch das abendlich dunkle Berlin sind wir dann endlich da. Das Ganze ist ja ein Fake, denke ich im Stillen. Bei Tag steht hier nämlich der Botanische Garten. Erst nachts verwandelt er sich in eine bunt beleuchtete Winterlandschaft. Auf ihrem Flyer locken die Veranstalter mit 2-D- Rentieren, übermannsgroßen Lichtkegeln, einem 4-Meter-Stern und insgesamt 1 Millionen Lichtpunkten.
Umgeben von tanzenden Sternen, bunten Leuchtbällen und lichterbehangenen Buchsbäumen machen wir uns auf den "Weg der Besinnlichkeit", wie es im Flyer mit pastoralem Pathos heißt.
Doch davon spüre ich erst einmal nichts. Es ist eiskalt und zugig. Auch die kulinarischen Stände und Trinkbuden erzeugen keine Wärme. Das hat doch mit Weihnachten nichts zu tun, schimpfe ich, als mir zwei jungen Frauen entgegenkommen. "Ne, ne, dahinten kommen noch schöne Sachen", sagen sie und weisen auf den Weg hinter sich.
Die ganz persönliche Weihnachtsgeschichte
Und dann passiert es: Erst ist es ganz leise, geht fast im Knirschen unserer Schritte unter. Als wir um eine Kurve biegen, kann ich es immer deutlicher hören: "Rudolph, the red nosed reindeer" singt eine sonore Stimme in breitestem amerikanischen Englisch. Und dann sehen wir sie: Die "Reindeers", die Rentiere, in voller 2-D-Herrlichkeit. Plötzlich spüre ich meine eiskalten Hände und Füße nicht mehr. Mir wird warm.
Es ist ein Tag nach Thanksgiving, schießt es mir durch den Kopf. Und während ich das Lied von Rudolph dem Rentier höre, muss ich an mein erstes Thanksgiving in den USA denken. Thanksgiving ist dort ein Familienfest, wie bei uns Weihnachten. Ein Washingtoner Freund nahm mich mit zur heimatlichen Farm seiner Familie in Arkansas. Am Morgen des Thanksgiving-Tages gingen wir mit seinem Vater und seinem Onkel auf die traditionelle Rotwild-Jagd. Am Abend schloss mich sein Vater in das Familien-Gebet mit ein. Es fühlte sich an, als wäre ich ins Allerheiligste aufgenommen. Ich spürte damals so viel Wärme und Freundschaft.
"Gero, wo bleibst du", reißt mich der Ruf meines Freundes aus den Erinnerungen. Ich zögere kurz und mache mich dann auf den Weg. Zurück in die Kälte der Nacht. Ich fühle mich getragen von einem universalen Band. Das hat ja doch was von Weihnachten, stelle ich erstaunt fest. Ich fühle mich ein bisschen überrumpelt und ringe um eine Erklärung. Vielleicht ist es ja so, dass jeder erst den passenden Weihnachtsmarkt finden muss, um seine ganz eigene Weihnachtsgeschichte zu erleben.
Berlin mit seiner Artenvielfalt an Weihnachtsmärkten ist sicherlich ein perfekter Ort dafür. Oder war alles doch nur eine kurze Sinnestäuschung in eisiger Kälte und ich das Opfer einer vorweihnachtlichen Fata Morgana?