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Kliniksterben: Deutschland in Notaufnahme

15. Dezember 2022

Jeden Monat schließt ein Krankenhaus in Deutschland, wie auch in der Kleinstadt Adenau. Befürworter sagen, ein richtiger Schritt, es gebe zu viele Kliniken. Kritiker sehen dagegen die Versorgung gefährdet.

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Symbolbild: Krankenhaus Deutschland
Eine Intensivschwester in der Universitätsmedizin RostockBild: Jens Büttner/dpa/picture alliance

Am Freitagnachmittag wird sich Daniela Thiesen auf den Marktplatz des 3.000-Einwohner-Städtchens Adenau in Rheinland-Pfalz stellen. Dass sie bei Minusgraden heftig frieren wird, ist ihr völlig egal. Zu wütend ist sie darüber, dass das einzige Krankenhaus der Stadt, die St. Josef-Klinik, Ende März geschlossen wird. Mit einer Mahnwache will Thiesen, die sich in der Bürgerinitiative Gesundheitsversorgung Adenauer Land engagiert, gegen den Beschluss protestieren. "Diese Entscheidung ist totaler Murks. Wir brauchen auch auf dem Land gute Kliniken und keine Versorgung zweiter Klasse."

Das, was gerade in Adenau passiert, geschieht in Deutschland im Monatstakt, dem Land sterben die Kliniken weg. Meist ist es ein schleichender Prozess, in Adenau wurde vor drei Jahren die chirurgische Abteilung geschlossen, derzeit gibt es gerade noch 74 Betten und die Abteilungen Akutgeriatrie, Innere Medizin, Radiologie und eine ambulante Chirurgie. Die Diagnose zur St. Josef-Klinik, die 1863 von Franziskanerinnen aufgebaut wurde, hört man hierzulande oft: zu defizitär, Personalmangel, sinkende Patientenzahlen.

Bevölkerung auf dem Land pocht auf Regelversorgung

Thiesen kann viele Geschichten darüber erzählen und sich in Rage reden, was es für Folgen haben kann, wenn die Versorgung nicht mehr funktioniert: von dem Rentner, der am Samstagmorgen vor dem Kaufhaus einen Herzstillstand erleidet, und die Helfer wieder und wieder aus der Warteschlange der Notrufzentrale herausfliegen. Von dem Schlaganfallpatienten, der mit dem Auto 150 Kilometer nach Mainz gefahren wird, weil ihn keine Klinik in der Nähe behandeln kann.

 katholischer Träger Marienhaus  Die St. Josef-Klinik in Adenau
Die St. Josef-Klinik in Adenau - nach 160 Jahren im März 2023 GeschichteBild: Katholischer Träger Marienhaus

Oder von der älteren Dame, die mit heftigen Schmerzen drei Stunden auf ihren Krankenwagen warten muss. "Ich schaue von meinem Haus auf die Grundschule, und da ist vor drei Wochen ein Kind nach einem Unfall mit einem Helikopter aus Luxemburg in ein Krankenhaus ins 100 Kilometer entfernte Trier geflogen worden. Wir sind keine Menschen dritter Klasse hier, die Regelversorgung steht uns laut Gesetz zu", sagt Thiesen und fügt mit einer gehörigen Portion Zynismus hinzu: "Wenn es so weiter geht, brauchen wir hier in Adenau bald wieder einen Medizinmann!"

Für Träger Schließung der Klinik alternativlos

Thiesens Wut richtet sich gegen die Politik, vor allem aber gegen den Träger der Klinik, Marienhaus. Das katholische Sozialunternehmen betreibt elf Krankenhäuser in Rheinland-Pfalz, Saarland und Nordrhein-Westfalen, dazu 21 Altenhilfe-Einrichtungen, einige Hospize sowie Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen. Sprecher Dietmar Bochert hat gerade die höchst undankbare Aufgabe, die Schließung der St. Josef-Klinik zu verteidigen.

"Bei der Notfallversorgung sind wir nicht mehr angefahren worden. Es braucht auch eine spezielle intensivmedizinische Versorgung, die nicht jedes Krankenhaus leisten kann – so auch Adenau. Die Menschen halten fest an der Vorstellung, die sie aus den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts kennen. Aber mit ihren Füßen stimmen sie anders ab und wählen die großen Kliniken oder die Spezialisten."

Dietmar Bochert, Marienhaus-Sprecher
"Immer mehr Operationen und Behandlungen werden in großen Krankenhäusern durchgeführt" - Dietmar BochertBild: Katholischer Träger Marienhaus

Von den 74 Betten, erzählt Bochert, seien in den letzten Jahren maximal 20 Betten belegt gewesen, 80 Prozent davon in der Geriatrie. 2019 seien nur ganze fünf lebensbedrohliche Notfälle im Krankenhaus behandelt worden, der Rettungswagen steuere längst direkt andere Kliniken an. Das Gesamtdefizit: mittlerweile zehn Millionen Euro.

Und dann passierte in diesem Jahr das, was der St. Josef-Klinik quasi den Todesstoß versetzte: "Der Bund der Krankenkassen GKV, der Verband der Privaten Krankenversicherer sowie die Deutsche Krankenhausgesellschaft haben den Mangel am Bedarf für Adenau erkannt und die Klinik aus der Liste der Krankenhäuser mit Anspruch auf Sicherungsleistungen entfernt", so Bochert.

Verzweifelt auf dem Land gesucht: Ärzte

Mit anderen Worten: die Klinik galt nicht mehr als unverzichtbar – einen Status, den sie bis Ende des vergangenen Jahres noch innehatte. Dietmar Bochert ist gerade dabei, für die 55 Vollzeitangestellten einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Dass St. Josef aber keine Zukunft hat, hänge vor allem mit der Lage auf dem Land zusammen, selbst Dienst-E-Bikes und eine zusätzliche Altersversorgung reichten oft nicht als Lockmittel. Der Marienhaus-Sprecher sagt:

"Wir sind in allen sozialen Medien unterwegs und haben zuletzt sogar diverse Werbekampagnen gestartet, um Mitarbeitende zu finden. In einem Fall, wo wir einen Chef- und eine Oberärztin gesucht haben, konnten wir niemanden bewegen, obwohl wir über Headhunter 100 Kandidaten angesprochen haben. Aber am Ende des Tages scheitert es, wenn Sie dann sagen, es geht um Adenau. Dann kommt dann schnell: Och nein, danke." 

Deutschland plant für 2023 Gesundheitsreform 

Geht es nach Karl Lauterbach, dann soll sich das alles bald ändern. Der Bundesgesundheitsminister hat Anfang Dezember seine geplante Krankenhausreform vorgestellt, und nicht weniger als eine "Revolution" angekündigt. Ein Punkt: Die Kliniken sollen in Zukunft in einheitliche und klar definierte Level eingeteilt werden. Was einige Bundesländer bereits mit Stufenmodellen vorgemacht haben, will Lauterbach in ganz Deutschland vereinheitlichen.

Kinderärzte im Krisenmodus

Level 1-Kliniken dienen demnach der Grundversorgung, dann wird nochmal unterschieden in Krankenhäuser mit und ohne Notaufnahme. Krankenhäuser mit dem Level-2-Stempel sind für die Regel- und Schwerpunktversorgung zuständig. Die Maximalversorgung gibt es dann nur noch in den Level-3-Kliniken, wie etwa den Universitätskrankenhäusern. Für jede Kategorie gelten einheitliche Standards für Geräte, Räume und Personal.

Organisationen wehren sich gegen Klinikschließungen

Klaus Emmerich bringen diese Pläne mächtig auf die Palme. Er hat in der bayerischen 20.000-Einwohner Stadt Sulzbach-Rosenberg den Beweis angetreten, dass man als Vorstand zwei Landkrankenhäuser sehr wohl krisenfest machen kann. Eigentlich ist Emmerich schon im Ruhestand, anderseits ist der Erhalt wohnortnaher Krankenhäuser im ländlichen Raum seine Lebensaufgabe. Was liegt also näher, als sich in dem vor zwei Jahren gegründeten "Bündnis Klinikrettung" zu engagieren.

Emmerich sagt: "Die stationäre Versorgung mit kurzen Wegen ist gefährdet. Wenn die Entfernung größer als 30 Minuten zu vollwertigen Krankenhäusern werden sollte, weil ein Drittel aller Krankenhäuser in Deutschland zu solchen Behandlungsklitschen umfunktioniert werden, dann ist das gefährlich und kann im Einzelfall lebensentscheidend sein."

Kritik an der geplanten Einstufung in drei Kategorien

"Behandlungsklitschen" sind für Emmerich die Level-1-Kliniken ohne Notversorgung, 650 Krankenhäuser in Deutschland drohten seinen Rechnungen zufolge zu besseren Pflegeheimen zu werden. Hintergrund: Das Bundesgesundheitsministerium kann sich vorstellen, dass diese Krankenhäuser nicht zwingend von Ärzten, sondern auch von qualifiziertem Pflegepersonal geleitet werden könnten. Eine verstärkte ambulante Versorgung also über Praxisärzte, und im Notfall eine Verlegung in ein Level-2 oder Level-3-Krankenhaus.

"Hier von Krankenhäusern zu sprechen ist der blanke Hohn, das sind in unseren Augen keine Krankenhäuser mehr. Das ist eigentlich nichts anderes als eine bessere Kurzzeitpflege kombiniert mit ambulanten Ärzten. Mehr ist das nicht. Wir werden in ländlichen Regionen viele Regionen zweiter Klasse mit unzulänglicher medizinischer Behandlung bekommen."

Klaus Emmerich, Zukunft der Krankenhäuser: Klinikrettung versus Klinikschließung
"Man muss genau zuhören: Kein Arzt wird diese Krankenhäuser leiten" - Klaus EmmerichBild: Rolf Zöllner/Bündnis Klinikrettung

Zweite Klasse heißt für Klaus Emmerich: keine ärztliche Verfügbarkeit sieben Tage und 24 Stunden die Woche, keine stationäre Notaufnahme mit Schockraum für Reanimationen und auch keine Computertomographien mehr. Das "Bündnis Klinikrettung" hat in Berlin dem Bundesgesundheitsministerium 90 Minuten die Idee für eine Selbstkostendeckung als neues Finanzierungsmodell für die Krankenhäuser erklärt, als Alternative zu Lauterbachs Plänen.

Doch mehr als ein Dank für das Treffen kam aus Berlin nicht als Reaktion. Emmerich will trotzdem weiterkämpfen: "Wir brauchen Krankenhäuser, welche die Patienten ordnungsgemäß und vollumfänglich als Allgemeinkrankenhäuser behandeln."

Deutschland will mehr Qualität als Quantität

Wenn Klaus Emmerich mit Reinhard Busse diskutieren würde, würden zwei Denkschulen aufeinanderprallen. Da ist zum einen die Idee, möglichst alle Kliniken zu erhalten und sie mit Mindeststandards auszustatten. Und auf der anderen Seite die Auffassung "Weniger ist mehr", Qualität vor Quantität, besser keine Klinik als eine schlechte Klinik.

Busse sagt: "Wir haben zu viele Krankenhäuser in Deutschland. Landkreise in Deutschland haben zum Teil drei kleinere Krankenhäuser, die alle schlecht ausgestattet sind. Alle gelten als systemrelevant, aber kein einziges hat einen Herzkatheter, kein einziges hat eine Schlaganfalleinheit. Wie muss die Krankenhausversorgung der Zukunft aussehen? Doch wohl so: statt drei schlechten Krankenhäusern lieber ein gutes Krankenhaus."

Reinhard Busse Professor Uni Berlin
"Die Medizin hat sich verändert, gleichzeitig hat unsere Krankenhausstruktur nicht nachgezogen" - Reinhard BusseBild: privat

Busse ist Professor für Management und Gesundheitswesen an der TU Berlin. Vor allem aber gehört er zu den 17 Wissenschaftlern und Medizinern, die Karl Lauterbachs sogenannte Revolution ausgearbeitet haben. Deutschland leistet sich mit 466 Milliarden Euro an Gesundheitsausgaben im vergangenen Jahr eines der teuersten Systeme der Welt – es fehlt also nicht an Geld, es ist nur falsch verteilt, meint der Gesundheitsökonom.

"Die Krankenhäuser saugen immer mehr Ärzte auf, wie ein Schwamm, das erklärt zum Teil auch den Mangel an niedergelassenen Ärzten. Wir haben auch viel Pflegepersonal im internationalen Vergleich. Da wir aber so viel mehr Betten und so viel mehr stationäre Fälle haben, kommt bei den Patienten relativ wenig Pflegepersonal an, weil wir es so breit verteilen."

Hohe stationäre Versorgung geht ins Geld

Busse kann dazu weitere Statistiken aufzählen: 50 Prozent mehr Krankenhauspatienten im Vergleich zu den Nachbarländern, heißt fünf Millionen stationäre Fälle zusätzlich. Krebspatienten, die viermal statt wie im Ausland zweimal auf Station liegen. 500 Herzinfarkte pro Tag in Deutschland, die aber in mehr als 1.000 Krankenhäusern behandelt werden.

Das deutsche Gesundheitssystem, das anteilig am Bruttoinlandsprodukt weltweit nach den USA am zweitmeisten Geld ausgibt, sollte sich deshalb besser auf die 425 Krankenhäuser der Level-2 und -3-Stufe konzentrieren. Sie seien das Rückgrat der Versorgung, sagt der Gesundheitsökonom. Und fordert Unterstützung für eine seiner Meinung nach längst überfällige Reform.

"70 Prozent der Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs werden nicht in entsprechenden Krebszentren behandelt, sondern in anderen Krankenhäusern. Wir wollen jetzt den logischen Grundsatz einführen, dass Krankenhäuser nur die Patienten behandeln sollen, mit denen sie sich auskennen, und nicht die Patienten behandeln, mit denen sie sich nicht auskennen."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur