Klares "Ja" für das Behindertenwahlrecht
15. April 2019Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts fällt eindeutig aus: Menschen mit gerichtlich bestellter Betreuung dürfen auf Antrag an der Europawahl am 26. Mai teilnehmen. Für Jürgen Dusel ist das eine gute Nachricht. Der 54-jährige Jurist aus Würzburg ist seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Schon Ende Februar hatte er im Gespräch mit der Deutschen Welle gefordert, dass es noch bis zu den Europawahlen Ende Mai eine Gesetzesänderung geben müsse. Die bisherige Gesetzeslage, nach der bisher viele behinderte und psychisch kranke Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen gewesen seien, habe der deutschen Demokratie "nicht gut zu Gesicht gestanden", so Dusel. "Es geht beispielsweise um Menschen, die jeden Tag in eine Werkstatt für behinderte Menschen fahren, die sich dort vielleicht auch ehrenamtlich engagieren. Menschen, die Parteiprogramme in leichter Sprache lesen, die durchaus politisch interessiert sind."
Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz
Bereits Ende Januar hatte das Bundesverfassungsgericht ein Wahlverbot für geistig behinderte oder psychisch kranke Menschen, die eine "Betreuung in allen Angelegenheiten" benötigen, für verfassungswidrig erklärt. Die Richter argumentierten, dass dies gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoße. Ein Ausschluss dürfe nicht an rein formelle Kriterien wie eine Betreuung geknüpft werden. Nur in besonderen Fällen sei ein Ausschluss gerechtfertigt: etwa wenn jemand aufgrund seiner Behinderung oder Krankheit nicht in der Lage ist, am politischen Diskurs teilzunehmen.
So klar der Richterspruch, so unklar war die Frage, ab wann entsprechende Änderungen des Wahlrechts umgesetzt werden sollten. Dass die Richter in Karlsruhe heute eine Entscheidung fällten, lag daran, dass Grüne, Linke und FDP einen Eilantrag in Karlsruhe gestellt hatten. Die Fraktionen von Union und SPD hatten argumentiert, eine Änderung des Gesetzes so kurz vor der Wahl würde in die Vorbereitungen eingreifen. Aus Sicht der Opposition ist die Aufnahme der betroffenen Personen in das Wählerverzeichnis allerdings noch möglich.
Bisher nur Ausnahmen bei Landtagswahlen
Gut 82.000 Menschen, die eine "Betreuung in allen Angelegenheiten" benötigen, sind von dem Urteil betroffen. In sechs Wochen dürfen sie nun zum ersten Mal bei einer Europawahl auf dem Wahlzettel ihr Kreuzchen setzen. Ebenfalls zum ersten Mal dürfen nun auch Menschen abstimmen, die eine Straftat begangen haben, aber wegen Schuldunfähigkeit in der Psychiatrie untergebracht sind. Dies betrifft bundesweit rund 3000 Personen.
Bisher durften betroffene Menschen nur in einigen wenigen Bundesländern auf Landes- und Kommunalebene abstimmen. Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein ließen diese zum ersten Mal 2017 wählen; Brandenburg, Bremen und Hamburg änderten 2018 ihre Wahlgesetze. Durch das Urteil aus Karlsruhe müssen nun auch alle übrigen Länder vollbetreute Menschen zu allen Wahlen zulassen.
Für Jürgen Dusel ist das nur konsequent: "Wer wollte denn entscheiden, wann jemand wahlfähig ist und wann nicht? Wählen zu dürfen, ist zentral für unsere Demokratie. Es gibt viele Menschen unter Betreuung, die wählen wollen. Da sprechen wir gerade nicht von Politikverdrossenheit. Und ich glaube, gerade wir Deutsche sind aufgefordert, besonders genau hinzuschauen, wenn Bevölkerungsgruppen pauschal fundamentale demokratische Grundrechte nicht gewährt werden. Das wird sich jetzt gottseidank ändern."
Neben den Europawahlen stehen in diesem Jahr noch in Bremen, Brandenburg, Sachsen und Thüringen Landtagswahlen an. Bei all diesen Wahlen werden betroffene Menschen von ihrem neu erworbenen Recht Gebrauch machen können.