Kirchen: Verlierer der Einheit?
4. Oktober 2013Einige Balken sind schon morsch. Der Dachboden der Kirche in dem kleinen Dorf Nechlin in der Uckermark, nordöstlich von Berlin, ist in keinem guten Zustand. Pfarrer Ulrich Kasparick trifft sich mit Mitarbeitern vom Denkmalschutz, um zu untersuchen, wie teuer eine Restaurierung würde. "Wir hatten in der vorigen Woche noch eine Überraschung. Da haben wir da vorne eine versteckte Handgranate gefunden aus dem Ersten Weltkrieg. Da hatte ich den Munitionsbergungsdienst hier", erzählt der evangelische Geistliche. Aber es ist noch mal gut gegangen. Die 700 Gramm Sprengstoff konnten entsorgt werden.
Überalterte Gemeinden
Seit zwei Jahren arbeitet der ehemalige SPD-Politiker, einst Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, in der Kirchengemeinde Hetzdorf. Der Pfarrer ist – typisch für die östlichen Landeskirchen - zuständig für 20 Ortschaften mit elf Kirchen und neun Friedhöfen. "Zwei Drittel der Bevölkerung sind in der dritten Generation nicht-kirchlich sozialisiert; da weiß schon der Großvater nichts mehr (über den christlichen Glauben). Darauf muss man sich einstellen." Der Altersdurchschnitt in den Gemeinden liege bei 70 Jahren. Auch wenn die Christen in der Uckermark nur noch eine kleine Minderheit sind, versteht sich Ulrich Kasparick doch als Seelsorger für alle. Und er hat die Erfahrung gemacht, dass sich auch die Atheisten ins Zeug legen, wenn es zum Beispiel um den Erhalt der Dorfkirchen geht. Und Atheisten gibt es in der Uckermark und in den anderen Regionen der neuen Bundesländer sehr viele.
Pfarrer als Vorkämpfer der Wende
Dabei waren es gerade evangelische Pfarrer und Kirchenvorsteher, die ihre Kirchen öffneten und der friedlichen Revolution den Weg ebneten. Pfarrer wie der damals in Rostock agierende Joachim Gauck, der Leipziger Christian Führer, die Berliner Rainer Eppelmann und Markus Meckel: Sie wollten die politische Wende und engagierten sich auch im vereinten Deutschland. Joachim Gauck hat es immerhin bis an die Spitze des deutschen Staates geschafft. Eppelmann war fast 15 Jahre für die CDU und Meckel annähernd 19 Jahre für die SPD im Deutschen Bundestag.
Entkirchlichte Region
Trotz der protestantischen Führungsrolle bei der friedlichen Revolution: Keine andere Region auf der Welt gilt als so "gottlos" und unreligiös wie die der ehemaligen DDR. Die Christen sind hier nur noch eine kleine Minderheit. Die evangelische Kirche, einst gefeiert für ihren entscheidenden Anteil an der friedlichen Revolution. Steht sie nun als Verliererin der Einheit da? Axel Noack schüttelt den Kopf. Der frühere evangelische Bischof von Magdeburg, heute Professor an der Universität Halle, zieht eine eher positive Bilanz. Anfang der 1990er Jahre habe es zwar noch viele Enttäuschungen gegeben. "Wir mussten beobachten, dass die Erfahrungen, die man in einer Diktatur sammelt, für das Leben in einer freien Gesellschaft nicht viel taugen". Ähnlich wie in der Politik hätten die östlichen Kirchen sich dem Westen unterordnen müssen. Aber heute begegne man sich auf Augenhöhe.
Erfolge der Einheit
Man habe sehr von der Einheit profitiert, unterstreicht Noack: "Wir haben in den letzten 20 Jahren so viele Kirchen renoviert und so viele Glocken gegossen, wie früher nicht einmal in 100 Jahren." In den östlichen Landeskirchen gibt es vergleichsweise wesentlich mehr Gotteshäuser als in den westlichen. "Und weil unsere Gemeinden daran gewöhnt sind, sich selber um ihre Gebäude zu kümmern, - das war in der DDR nicht anders möglich - merken wir heute, dass es sich ausgesprochen positiv auswirkt. Unsere Gemeinden sind viel selbstständiger als die im Westen".
Das sieht auch Bernhard Bock so. Er ist katholischer Dechant im thüringischen Bad Salzungen. Bei Gesprächen mit den zugereisten Westdeutschen erlebe er immer eine gewisse Erwartungshaltung. "Die wissen aber nicht, dass Kirche hier nur funktioniert, wenn sie sich selbst mit einbringen. Die sind noch sehr auf die Service-Kirche orientiert." Allerdings, so Bernhard Bock, sei das Wir-Gefühl der Gemeinde mit der Einheit verloren gegangen. "Früher war man – auch in Abgrenzung zum SED-Regime – einer Meinung." Heute sei alles unverbindlicher und pluraler.
Zahl der Christen nimmt ab
Weniger Christen seien es geworden – bei den Katholiken wie den Protestanten. Durch den Wegzug in den Westen, aber vor allem, weil so wenige Kinder geboren werden, klagt Alt-Bischof Axel Noack. Dabei seien die Kinder so wichtig. "Wir erleben durch die Schulen, die Kindergärten, wie wir religiöse Themen an die Küchentische der Eltern bringen, die wir sonst da nie hin kriegen würden. Bei uns im Osten hat es sich richtig umgekehrt: Bei uns lehren die Kinder die Eltern, und wenn es mehr Kinder gäbe, hätten wir überhaupt keine Probleme."
Atheistenfang mit Rosen?
Mit Speck fängt man Mäuse, mit Rosen Atheisten und Agnostiker? Der Ex-Politiker und jetzige Dorfpfarrer Ulrich Kasparick versucht es. Er geht neue Wege, um die Menschen für die Kirche zu interessieren. Zum Beispiel mit der Idee eines Rosengartens, den er hinter dem Pfarrhaus angelegt hat. "Das hier vorne ist eine Chili. Die kann man sehr schön zum Kochen nehmen", erläutert der Pfarrer, während er durch seinen Rosengarten schlendert. "Hier ist unsere Zweitälteste, die Sorte ist 2500 Jahre alt. Die duftet wunderbar".
Der Rosengarten entstand zuerst im Internet. Auf seiner facebook-Seite berichtete Kasparick von der Idee, einen Rosengarten anzulegen. Drei Tage später kam die erste Rose von einer Freundin aus Finnland. Mittlerweile wachsen im Pfarrgarten von Hetzdorf schon 50 verschiedenen Rosensorten – mit tatkräftiger Unterstützung von Menschen, die sonst nichts mit Kirche am Hut haben. Der kirchliche Rosengarten als Magnet – für die Dorfbevölkerung und für Touristen. "Oh, hier sehe ich zu meinem Erstaunen Rehspuren", sagt Ulrich Kasparick. "Die gehen gerne daran und fressen Rosen ab. Da müssen wir was unternehmen." Ein neues Problem – aber dafür hat bestimmt einer aus der weltweiten facebook-Gemeinde des Landpfarrers eine Lösung.