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Kinsey-Report: Skandal vor 70 Jahren

Katharina Abel
31. Januar 2018

Was machen die Amerikaner im Bett? Der Wespenforscher Alfred Kinsey hat es erfragt. Sein erster Kinsey-Report kam vor 70 Jahren raus - und war eine Sensation. Der deutsche Sexualforscher Jakob Pastötter blickt zurück.

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Symbolbild One-Night Stand im Hotel
Bild: picture-alliance/CTK/H. Josef

Es war ein gesellschaftliches Erdbeben: Am 31.01.1948 erschien in den USA der erste Kinsey-Report unter dem Titel "Sexual Behavior in the Human Male". Wie oft masturbieren Männer? Wie viele gehen fremd? Treiben sie es mit Tieren? Antworten darauf lieferte der Kinsey-Report, fünf Jahre später auch zu den Frauen. Ein Mammut-Projekt, das auf einem Zufall basierte: Alfred Kinsey, der Wissenschaft zuvor als Wespenforscher bekannt, hatte bei der Arbeit als Dozent für einen Kurs mit dem Titel "Ehe und Familie" an der Indiana University entdeckt, dass es kaum Zahlen zum Sexleben der Amerikaner gab. Sein Interesse als Wissenschaftler war geweckt. Über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren stellt er mit seinem Team 5.300 Männern und 5.940 Frauen in anonymisierten Interviews hunderte Fragen zu ihrem Sexualverhalten – und holt das Thema damit aus der Tabuzone. Seine Erkenntnisse: Etwa die Hälfte der Bevölkerung ist bis zu einem gewissen Grad bisexuell, fast jeder masturbiert, und 22 Prozent finden sado-masochistische Praktiken erregend.

Der Kinsey-Report gilt als Meilenstein der Sexualkunde, doch es gibt auch heftige Kritik: an der Auswahl der Interviewpartner - so sind zum Beispiel Gefängnisinsassen deutlich überrepräsentiert - und an Kinseys unkritischem Umgang mit dem Thema Pädophilie. Nichtsdestotrotz wurden seine Bücher internationale Bestseller, viele sehen sie heute als Auslöser der sexuellen Revolution der 1960er Jahre.

Alfred Kinsey
Alfred Kinsey im August 1953Bild: picture-alliance/dpa

70 Jahre später ist es Zeit für einen Blick zurück - mit dem Kulturanthropologen und Sexualwissenschaftler Jakob Pastötter. Er leitet das Institut für Sexualberatung der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS) in Düsseldorf.

Herr Pastötter, wie wird man eigentlich Sexualforscher?

(lacht) Ich habe angefangen als Kulturanthropologe. Und es gibt einen Zweig der Kulturanthropologie, der sich mit der Sexualität beschäftigt. Und da sind wir schon mitten in der Geschichte der Sexualwissenschaft.

Als vor 70 Jahren der Kinsey-Report erschien, da wussten die Amerikaner mehr über das Paarungsverhalten der Gallwespe als über das Paarungsverhalten der Menschen. Mit welchen Tabus hat Alfred Kinsey, der ja ursprünglich Wespenforscher war, die Welt schockiert?

Er hat sie damit schockiert, dass er die Menschen durch die selbe Brille wahrgenommen hat wie seine Gallwespen – nämlich völlig moralfrei und nur an der Quantität interessiert.

Ein Forscherblick?

Dr. Jakob Pastötter
Der Sexualwissenschaftler Jakob PastötterBild: privat

Absolut, ein reiner Forscherblick. Und Kinsey kam zu Hilfe, dass er als harmlos galt, als nicht getrieben von irgendeiner Agenda. Die Sexualforschung hatte immer das Handicap, dass sie als ideologisch wahrgenommen wurde. Es ging immer darum, die Lebensverhältnisse der unterprivilegierten Schichten zu befördern. Und das galt bereits als links und als verdächtig. Das Interessante bei Kinsey war ja, dass es schon 30 Jahre vorher das Geld für diese Forschungen gegeben hat, nämlich von der Rockefeller-Stiftung. Die hatten auch familiäre Interessen an diesem Bereich. Aber es ging vor allem darum jemanden zu finden, der harmlos genug war, um so ein Forschungsprojekt auf nüchterne, trockene und langweilige Art und Weise durchzuführen.

Sexualforschung war also hochpolitisch?

Unbedingt, von Anbeginn - übrigens auch in Deutschland. Die Anfänge wurden hier von deutsch-jüdischen Hautärzten gemacht. In Deutschland läuft merkwürdigerweise das Thema Geschlechtskrankheiten unter dem Bereich der Hautmedizin. Das war von Anfang an sehr links besetzt, mit sozialistischen Ideen im Hinblick auf Empfängnisverhütung und Abtreibung.

Zwei Küssende
Bild: picture-alliance/dpa/F. May

Der Kinsey-Report traf ja auf einen puritanisch-konservativen Zeitgeist. War Kinsey ein Vorkämpfer der sexuellen Revolution?

Ja, so hat er sich betrachtet, weil er ja auch unter diesen puritanischen Vorbehalten gelitten hatte. Aber auch wegen seiner Studien. Er hat immerhin rund 20.000 Menschen interviewt. Das ist ein völlig anderes Vorgehen als heute üblich: Keine Stichprobe von vornherein festzulegen, sondern große Mengen von einer sagen wir mal "Gefängnisinsassen-Population" oder "evangelischen Pfarrgemeinde-Population" zu nehmen, die zusammenzuwerfen, wie er es auch mit den Gallwespen gemacht hat. Und dann herauszufinden: Was können wir rein empirisch über das Sexualverhalten des Menschen sagen?

Stellen Sie sich vor, Sie wären Kinsey. Über welche Sexfragen würden Sie Ihren Pastötter-Report schreiben?

(lacht) Über völlig andere. Was Kinsey nicht gewusst hat und was auch heute in der Sexualwissenschaft kaum bekannt ist, weil sie nur Interesse an der Quantität hat, weniger an der Qualität - mich würde interessieren, wie die unterschiedlichen Paare miteinander Sexualität leben. Das haben uns die Chinesen voraus, die schon vor 5000 Jahren begonnen haben, Sexualität verdammt ernst zu nehmen. Statt zu meinen, guter Sex kommt, wenn man eine gute Beziehung hat, haben sie das Pferd von hinten aufgezäumt und gesagt: Eine gute Beziehung kommt, wenn man guten Sex hat. Ich würde also fragen: Was macht Ihr, um guten Sex zu haben?

Filmstill aus "Das Wunder der Liebe II"
Szene aus Oswald Kolles Film "Das Wunder der Liebe II"Bild: Imago/United Archives

Aber war es nicht schon immer Forschungsinteresse, herauszufinden, wie es die Menschen machen?

Ja, aber nur in der Quantität, nicht in der Qualität. Kinsey hatte das große Problem, irgendwelche objektiven Parameter festlegen zu müssen. Er hat sich dann dafür entschieden, den Orgasmus als Parameter festzulegen. Aber wie jeder aus seiner Erfahrung weiß, ein Orgasmus kann flach oder tief und sehr erfüllend sein. Und diese Frage hat Kinsey nie gestellt.

Das Gespräch führte Stefan Dege.