Vorwürfe gegen iranischen Geistlichen
28. Oktober 2016Über die persischsprachigen Programme des amerikanischen Auslandssenders VOA und der BBC haben mehrere junge Iraner eine intensive Debatte im Land losgetreten. In den Interviews werfen sie einem prominenten Koran-Rezitator vor, sie sexuell missbraucht zu haben. Die Interviews gaben sie, weil die iranische Justiz trotz intensivem und langjährigen Drängen der Opfer und ihrer Familien keine Anklage erheben wollte. Neben mindestens zwei Interview-Partnern gibt es weitere junge Männer, die dem Rezitator (im Iran Qari genannt) Said Tousi sexuelle Übergriffe, einschließlich Vergewaltigung, vorwerfen. Die mutmaßlichen Opfer absolvierten damals gerade eine Ausbildung bei Tousi. Tousi hat als Qari zahlreiche - auch internationale - Auszeichnungen gewonnen und wird von Irans Revolutionsführer Khamenei geschätzt.
Den iranischstämmigen Soziologe Hossein Ghazian überrascht es nicht, dass sich die Opfer an die internationale Presse gewandt haben. "In der iranischen Justiz ist es langwierig und teuer, Recht zu bekommen. Und wenn die Gegenseite zu den Insidern des Regimes gehört, ist es praktisch unmöglich." Sich an die Presse zu wenden wäre daher die letzte, verzweifelte Hoffnung der Opfer, doch noch Gerechtigkeit zu erfahren.
Die Reaktion der iranischen Justiz auf die Interviews ließ nicht lange auf sich warten. Ayatollah Sadegh Larijani, Leiter der iranischen Justiz, warnte, dass alle die "mit feindlichen Medien kooperiert haben" mit einer Strafe zu rechnen hätten. Die Familie eines Opfers veröffentlichte daraufhin eine Stellungnahme, in der sie sich – wörtlich - von den "Maßnahmen der feindlichen Medien und vor Allem von der abgenutzten Fanfare des großen Satans [der USA, Anm. d. Red.]" distanziert. Allerdings rufen sie in dem gleichen Schreiben zu schnellen und genauen Ermittlungen auf und deuten an, dass sie die Interviews als Reaktion darauf verstehen, dass dies bisher nicht geschehen sei.
Missbrauch im iranischen Gesetz
Obwohl vor allem die junge und städtische Bevölkerung als liberal gilt, werden zwischenmenschliche Beziehungen in der Islamischen Republik streng reglementiert. Paare müssen in der Öffentlichkeit ständig mit spontanen Kontrollen durch die Sittenpolizei rechnen, Unverheirateten drohen dabei Haftstrafen. Noch strenger sind die Regelungen für Homosexuelle. Auch auf einvernehmlichen Geschlechtsverkehr stehen hier harte Strafen bis hin zur Todesstrafe.
In den iranischen Sozialen Medien gärt es daher, nachdem die Missbrauchsvorwürfe bekannt wurden. Ein User schreibt verwundert: "In einem Land, in dem man mit der eigenen Frau ohne Heiratsurkunde nicht einmal ein Hotelzimmer buchen kann, kann einer einfach so mit einem fremden Kind zum Hamam gehen." Tousi soll eines seiner Opfer in einem Hamam am Rande der Hauptstadt Teheran missbraucht haben.
Offizielle Statistiken zum sexuellen Missbrauch von Kindern werden vom Iran nicht veröffentlicht. Dies wird auch durch die Tatsache erschwert, dass es hierfür keinen eigenen Straftatbestand gibt sondern Fälle wie die Vorwürfe gegen den Rezitator entweder vom jeweiligen Richter als Kindesmisshandlung angesehen und geahndet werden – oder als homosexuelle Straftat. Unter Kindesmisshandlung fällt sonst etwa die psychische oder körperliche Bestrafung von Kindern, Täter müssen in diesem Fall nur mit Geld- und Haftstrafen rechnen. Homosexualität dagegen kann auch mit dem Tod bestraft werden.
Vorwürfe schaden dem Zusammenhalt der Machtclique
Viele Iraner begegnen den Vorwürfen mit schwarzem Humor. "Warum geben sie den feindlichen Medien Interviews? Sie könnten sich doch auch direkt beim Justizministerium melden und darum bitten, verhaftet zu werden" kommentiert ein User den Vorgang. Aber auch der Umstand, dass mit Tousi eine Figur aus dem Kern des informellen Machtgefüges in dem Land im Zentrum der Vorwürfe steht, wird mit bitterem Unterton kommentiert. "Man sollte zur Wiedergutmachung des Unrechts, das Tousi erleiden musste, wenigstens ein paar Aktivisten ins Gefängnis werfen." Es gibt aber auch ernsthaftere Gedanken zum Thema. Ein Nutzer kommentiert diese Posts: "Wir Iraner sind wie gefolterte Menschen, die irgendwann keinen Schmerz mehr spüren, weil das Nervensystem lahm geworden ist. Es ist zum Heulen!"
Auch Soziologe Hossein Ghazian sieht in den Reaktionen ein Anzeichen für die Verrohung von Teilen der Gesellschaft. Die Kommentatoren in den Sozialen Medien würden ignorieren, dass sie damit nicht nur die Täter bestärkten, sondern auch die Opfer erneut erniedrigten. Dennoch könnten die Fälle eine Sprengkraft entwickeln, die das religiöse Establishment erschüttern könnte. "Das Kapital der religiösen Machtclique ist ihr Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung. In einem Land, in der die Politik das Vertrauen der Menschen untereinander zerstört hat, ist deren Wert kaum zu überschätzen." Fälle wie der von Tousi könnten diesen Zusammenhalt nun aber ernsthaften Schaden zufügen.