Kinderbuchautorin Judith Kerr - Flucht als Abenteuer
Ihre Kinderbücher stehen weltweit in Bücherregalen. Ihre Fluchtgeschichte als Kind, das mit seinen jüdischen Eltern aus Nazideutschland fliehen muss, hat Judith Kerr literarisch erzählt. Hier die Stationen ihrer Flucht.
Eine glückliche Kindheit
Judith Kerr (rechts) wächst behütet in Berlin auf, ihr Bruder Michael ist zwei Jahre älter. Die Kinder des bekannten Theaterkritikers Alfred Kerr haben viele Freiheiten. Ihre Mutter Julia ist Pianistin, und komponiert viel zu Hause. Auf dem Schulweg kauft Judith oft Buntstifte und zeichnet Geschichten, die sie mit ihren Freundinnen erlebt hat. Auf Rechnen und Lesen hat sie wenig Lust.
Vater Kerr spricht im Radio
Alfred Kerr ist ein entschiedener Gegner der Nationalsozialisten. Ab Frühjahr 1932 hat er jeden Montag im deutschen Rundfunk eine eigene Radiosendung. Die Drohungen der Nazis halten die Eltern vor den Kindern geheim. Weihnachten 1932 dürfen Judith und ihr Bruder zum ersten Mal ins Kino: "Emil und die Detektive". Den beiden Kindern ist nicht bewusst, dass sie als jüdische Familie gefährdet sind.
Adolf Hitler und die Nazis kommen an die Macht
Am 30. Januar 1933 wird Adolf Hitler (Bildmitte), der "Führer" der NSDAP, zum Reichskanzler ernannt. Die politischen Umbrüche nehmen in rasantem Tempo ihren Lauf. Die Familie Kerr lebt in Berlin-Grunewald, die Kinder bekommen die politischen Veränderungen nicht direkt mit. Aber sie spüren die Unruhe der Eltern. Ihren Jugendroman nennt Judith Kerr später: "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl".
Die letzten Wochen in der Reichshauptstadt
Im Februar 1933 liegt der Vater mit schwerer Erkältung im Bett. Die Nationalsozialisten haben die Macht übernommen, überall in der Berlin sind Aufmärsche. Gewerkschafter und Regime-Gegner werden hart verfolgt, erste Verhaftungswellen laufen an. Alfred Kerr wird zum Glück gewarnt, dass sein Pass konfisziert werden soll. Am 15. Februar flieht er nachts in letzter Minute über die Grenze nach Prag.
Abenteuerliche Flucht in die Schweiz
Judith und ihr Bruder sagen kein Sterbenswörtchen über die Flucht des Vaters. Die Mutter beginnt heimlich Koffer zu packen, auch die Kinderzeichnungen von Judith nimmt sie mit. Am Tag vor der Reichstagswahl am 5. März 1933 steigen sie den Zug in die Schweiz, gerade noch rechtzeitig. Dort treffen sie auch den Vater wieder. Den Geschwistern erscheint die Reise ins Exil eher wie ein großes Abenteuer.
Die Bücherverbrennung 1933
Als jüdischer Schriftsteller ist Alfred Kerr schon lange im Visier der Nazis. Am 10. Mai 1933 findet vor der Berliner Humbold-Universität eine öffentliche Bücherverbrennung statt, organisiert von der "Deutschen Studentenschaft". Die Bücher von Alfred Kerr werden von der johlenden Menge ins Feuer geworfen, genauso wie die anderer Emigranten: Thomas und Heinrich Mann, Erich Kästner, Franz Werfel.
Fluchtstationen: Lugano, Zürich, Paris
Judith ist neun, als ihre behütete Kindheit durch die Flucht ins Ausland beendet wird. Die beiden Geschwister sind jetzt Emigrantenkinder, die Familie mittellos. Alles, was ihnen lieb und wichtig ist, müssen sie zurücklassen. "Das Klavier war weg, die Vorhänge, alle Spielsachen, auch das rosa Kaninchen", schreibt sie später. In Paris beziehen die Kerrs nach langer Odyssee eine möblierte Wohnung.
Emigrantenleben in Armut
Wie alle jüdischen Emigranten haben die Nazis die Kerrs enteignet und ihre Besitztümer konfiziert. Die Familie lebt im Exil in großer Armut. Judith gefällt es trotzdem, ein Flüchtling zu sein: "Paris war wunderbar", schreibt sie später. Vater Kerr kann mit dem Schreiben die Familie kaum ernähren. Aus Geldnot müssen sie Paris verlassen, und landen 1936 in einem schäbigen Emigrantenhotel in London.
Harte Kriegszeiten in London
Am 1. September 1939 brechen die Nazis den Zweiten Weltkrieg vom Zaun. Nach den Bombenangriffen auf London sind die Kerrs auf einmal "friendly enemy aliens". Die jüdische Emigrantenfamilie erlebt viel Solidarität durch die Briten. "Die Menschen waren so gut zu uns, so mutig. Schließlich waren wir Deutsche", erinnert sich Judith Kerr, die patriotische Gefühle für ihre neue Heimatstadt entwickelt.
Neue Heimat Großbritannien
1946 beginnt Judith (rechts) dank eines Stipendiums ein Studium an der "Central School of Arts and Crafts". Gelegenheitsjobs als Zeichenlehrerin und Lektorate bei der BBC ermöglichen ihr Unabhängigkeit von den Eltern. Ihre Mutter arbeitet zeitweise als Dolmetscherin bei den Amerikanern, auch beim Nürnberger Prozess. 1947 hält Judith stolz einen Pass in den Händen - als britische Staatsbürgerin.
Erfolg mit ihren Kinderbüchern
Judith Kerr schreibt Kinderbücher: 1968 erscheint "The Tiger Who came to Tea". Beim Texten hilft ihr Mann Nigel Kneale, den sie bei der BBC kennengelernt hat, die Zeichnungen illustriert Kerr von Hand - nur mit Buntstiften und Radiergummi. 1970 folgt "Mog The Forgetful Cat", beide Bücher Riesenerfolge. Bis ins hohe Alter saß sie am Zeichentisch und dachte sich Geschichten für Kinder aus.
Millionenauflage für ein Jugendbuch
Rund um den Globus werden die Kinderbücher von Judith Kerr gelesen, die Kinder lieben ihre herzerfrischenden Geschichten. Ihr berühmtestes Buch in Deutschland ist "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl", ein Klassiker der Emigrantenliteratur - auch für Erwachsene. Als Triologie erzählt sie darin die Geschichte ihrer Flüchtlingsfamilie. 1974 wird ihr dafür der "Deutsche Jugendbuchpreis" verliehen.
In ihrer Bücherwelt zuhause
Am liebsten kam Judith Kerr zu Lesungen für Kinder nach Deutschland. Regelmäßig besuchte sie ihre alte Heimatstadt Berlin und stellte ihr neuestes Buch vor. 2016 war sie mit dem Kinderbuch "Ein Seehund für Herrn Albert" (in Englisch: Mister Cleghorn´s Seal") auf Lesereise, mit 93 Jahren. Im Publikum auf dem Literaturfestival befanden sich auch viele Flüchtlingskinder.
Zeichnen als Lebenselixier
Über 80 Jahre lang war Großbritannien ihre neue Heimat. "Ich bin sehr glücklich geworden in England", erzählte sie 2017 im charmanten Deutsch über ihre Berliner Kindheit. In einem TV-Interview für die DW-Dokumentation "Nach der Flucht" erzählte sie von ihrer Flucht und dem Leben als Emigrantin in London. Diese Erinnerungen bleiben auch nach ihrem Tod 2019 in ihren Büchern lebendig.