Kinder und Jugendliche: Die Corona-Verlierer
14. Februar 2022Im Sommer 2021, als die Jugendlichen in Deutschland für einen kurzen Moment die Hoffnung haben, wieder ein halbwegs normales Leben führen zu können, ist Annika (Name von der Redaktion geändert) an einem Abend der vielleicht glücklichste Mensch der Welt. Die 17-Jährige betritt zum ersten Mal in ihrem Leben einen Club in Köln, tanzt und vergisst für einige Stunden alles, was mit Masken, Tests und Quarantäne zu tun hat.
"Das war etwas ganz Besonderes, an das ich immer noch gerne zurückdenke. Denn alle sagen Dir immer: 'Genieß Deine Jugend, mache alles, was Du möchtest'. Aber dieses Gefühl von einem jungen Leben geht gerade verloren. Wenn uns später unsere Kinder einmal fragen, was wir als Jugendliche gemacht haben, werden wir sagen müssen: 'Wir waren zu Hause'."
Annika ist typisch für die Generation, die in einigen Fachkreisen schon "Generation Corona" genannt wird und die im Begriff ist, die zwei vielleicht besten Jahre ihres Lebens zu verpassen. Zwar kam die sogenannte Copsy-Studie zu Corona und Psyche des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf gerade zu dem Ergebnis, dass es den Kindern und Jugendlichen in Deutschland im Vergleich zur zweiten Corona-Welle wieder etwas besser geht.
Doch wahrscheinlich wird man erst in ein paar Jahren sehen, was Lockdown, Kontaktbeschränkungen und Online-Unterricht langfristig bei der "Generation Corona" angerichtet haben. "Ich hatte auch schon meine Down-Phasen, aber jetzt geht es mir ein wenig besser. Vor der Pandemie hatte ich Sozialkontakte geliebt und jedes Wochenende etwas vor. Mittlerweile bin ich auch gerne zu Hause. Es ist so, wie es ist, wir haben es relativ schnell akzeptiert", sagt Annika.
Keine krisenfeste Planung möglich
Wenn alles klappt, wird die junge Bonnerin im Sommer ihr Abitur machen. Sie träumt von einer unvergesslichen Abi-Feier und will anschließend in Deutschland ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Jugendarbeit absolvieren. Wenn alles klappt. Doch es ist genau das, was die Jugendlichen schmerzhaft in der Pandemie lernen mussten: Eine krisenfeste Planung gibt es nicht, für gar nichts.
"Wir alle haben eine gewisse Angst, uns ist ein wenig mulmig, wenn wir in die Zukunft schauen. Weil wir nicht wissen, kommt doch noch mal irgendwas, eine neue Variante zum Beispiel. Vielleicht können wir doch nicht das machen, was wir wollen. Immer schwebt dieses Gefühl der Unsicherheit mit."
Vor Kurzem hat sich Annika Boostern lassen, bei ihrem Arzt Axel Gerschlauer. Der Kinder- und Jugendmediziner hat, wie eigentlich immer in den vergangenen Wochen und Monaten, alle Hände voll zu tun. Gerade war auch eine 17-jährige Patientin bei ihm - PCR-Test: positiv - und hat sich bei ihm ausgeweint. Ihr Leben sei schrecklich, nichts dürfe man seit zwei Jahren machen, sie seien die Verlierer der Pandemie, klagte die Schülerin im Abschlussjahr.
"Ich spüre weniger Wut als Fatalismus", sagt Gerschlauer. "Da ist Lethargie, da ist Enttäuschung, da ist tiefe Frustration". Den Kindern und Jugendlichen sei klar, dass ihnen keiner hilft und sie würden keine Unterstützung mehr erwarten, so die Analyse des Bonner Arztes: "Sie haben keine Dankbarkeit für ihre Opfer erfahren, sondern einfach nur Desinteresse ihnen gegenüber. Und dieses Desinteresse ist das, was uns alle so fertig macht."
Kinder- und Jugendärzte mahnen vergeblich
Vor ziemlich genau einem Jahr hat die DW schon einmal Gerschlauer in seiner Praxis besucht. Schon damals hat der Arzt, der gleichzeitig Pressesprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte für Nordrhein ist, von der Größenordnung der Schäden für die jungen Menschen gewarnt. Und angemahnt, das Personal an Psychotherapeuten massiv auszubauen. Passiert sei aber nichts.
"Ich glaube nicht mal, dass ein einziger mehr dazu gekommen ist, seitdem wir vor einem Jahr gesprochen haben", zieht Gerschlauer Bilanz. Die Auffälligkeiten seien immer noch die Gleichen. Der Kinder- und Jugendarzt nennt sie "die drei großen Klassiker": Schlafstörungen, Essstörungen, Angststörungen. "Dann gibt es Jugendliche, die sich wieder einnässen, Schulverweigerung haben wir wahnsinnig viel und die Jugendlichen ritzen sich immer noch, weil das als Stressabbau für sie funktioniert."
Omikron rauscht durch die Schulen
Gerschlauer sagt von sich, er fühle sich wie seine jungen Patienten: müde, mürbe und abgestumpft. Zwölf PCR-Tests hat der Arzt am Tag durchgeführt, elf davon waren positiv. Omikron rauscht gerade mit riesiger Geschwindigkeit durch Deutschlands Schulen, laut Zahlen der Kultusministerkonferenz sind sechs Prozent der Schüler und drei Prozent der Lehrkräfte entweder infiziert oder in Quarantäne.
"Seit zwei Jahren warten wir darauf, dass Lüftungsfilter in den Schulen kommen, es gab Ideen von einem gestaffelten Schulbeginn und mehr Schulbussen. Alle Anforderungen waren von Anfang an bekannt, aber wenn es um Kinder und Jugendliche geht, wurden diese nicht erfüllt. Seit zwei Jahren versagt die Politik", sagt Gerschlauer. Und dies sei die Grundlage für die ganzen psychologischen Probleme und psychiatrischen Erkrankungen, die jetzt diagnostiziert würden.
Dabei ist das, was Gerschlauer beobachtet, nur die Spitze des Eisbergs. Seine Praxis liegt in der Bonner Südstadt, wo das Bildungsbürgertum der früheren deutschen Hauptstadt zu Hause ist. Wie erst müssen Kinder und Jugendliche unter der Pandemie leiden, die in sozialen Brennpunkten leben, in beengten Wohnverhältnissen und mit viel höheren Infektionsraten?
Der Kinder- und Jugendarzt fordert einen Politikwechsel, jetzt: "Am Anfang haben wir Containment gemacht. Da war ich total stolz auf unser Land, wir sahen die furchtbaren italienischen Verhältnisse und es war klar: Wir wollen das nicht, dass die Leute sterben auf den Intensivstationen, aus Mangel an Betten, Beatmungsgeräten und Pflegekräften. Jetzt machen wir immer noch Eindämmung, es funktioniert aber nicht." Man könne Omikron nicht eindämmen und deshalb werde es Zeit, in der Pandemiebekämpfung von "Containment" zu "Protection" zu wechseln.
Die medizinischen und psychologischen Folgen der Corona-Pandemie für Kinder und Jugendliche sind das eine, doch wie tickt die sogenannte "Generation Corona" im Unterschied zu ihren Vorgängern, wie wirkt sich die Pandemie auf ihren Charakter aus? Wer das wissen will, muss bei Klaus Hurrelmann anrufen. Der Professor für Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin gilt als Papst der deutschen Jugendforscher. Seit Jahrzehnten fühlt der Mitautor der Shell-Jugendstudie den Puls der nachwachsenden Generation.
Kontrollverlust mit Folgen für die Zukunft
Hurrelmann sagt: "Kinder und Jugendliche in der Pandemie haben das Gefühl, sie hätten keine Kontrolle mehr über sich selbst. Auch keine Möglichkeit, ihr eigenes Leben zu steuern und zu planen und fallen deswegen in ein psychisches Loch, wo sie Unterstützung und Hilfe brauchen. Je empfindsamer, je pessimistischer, je übervorsichtiger die jungen Leute schon vor der Pandemie waren, desto stärker sind sie jetzt betroffen."
In Deutschland leben knapp 2,3 Millionen Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren. Hurrelmann geht nach Befragungen davon aus, dass etwa ein Drittel von ihnen durch die Pandemie stark verunsichert wurden, deren Leistungen im schulischen Bereich stark gelitten haben und große Defizite entstanden sind.
Durch gute Arbeit in den Bildungseinrichtungen könne das zwar wieder aufgefangen werden, doch auf Unternehmen, Betriebe und Ausbildungsbereiche komme in Zukunft eine Herkulesaufgabe zu. Das fängt schon damit an, die Jugendlichen wieder an das Leben in der analogen Welt heranzuführen.
Wichtigste Lebensphase durch Pandemie gestört
Wenn digitale Plattformen über zwei Jahre das einzige Medium sind, um Kontakte aufzunehmen, so der Jugendforscher, dann könne das über einen so langen Zeitraum zu Einschränkungen in der Entwicklung führen: "Ich kann den anderen nicht riechen, nicht anfassen. Ich bekomme seine Aura nicht mit, weiß nicht, wie er sich bewegt. Diese Verarmung von Impulsen sorgt dann bei einem realen Kontakt in körperlicher Anwesenheit dazu, dass die Jugendlichen gar nicht wissen, wie man sich verhält, wie man sich benimmt, wie man anderen in die Augen schaut."
Klaus Hurrelmann sagt, es gebe aber auch unter den Jugendlichen Gewinner der Corona-Pandemie: diejenigen mit einer entsprechenden Mentalität, die sich aktiv angepasst, die neuen Spielregeln schnell verinnerlicht und ihren Alltag in Eigeninitiative umgebaut hätten, um die Kontrolle wiederzugewinnen.
Doch wenn es eine Lebensphase gibt, in der eine Pandemie fatale Konsequenzen haben kann, dann sei das vor allem die Pubertät: "Es ist eine zentrale Entwicklungsphase mit Fragen wie: Wo sind meine Grenzen? Wie löse ich mich von meinen Eltern? Und wer bin ich überhaupt? Auch die ersten intimen Kontakte, die ja in diesem Alter entstehen, werden aufgeschoben. Erwachsene haben diese Reise hinter sich, haben sich gefunden und kennen ihre Stärken und Schwächen. All das ist durch Corona blockiert und das drückt natürlich auf die Stimmung."