"Kim Jong Un scheinbar unangefochten"
9. Mai 2016Deutsche Welle: Was ist aus Ihrer Sicht die zentrale Botschaft des Parteikongresses in Nordkorea?
Rüdiger Frank: In einem Wort: Normalisierung. Die für ein sich selbst sozialistisch nennendes Land ungewöhnliche Phase ohne Parteitag und ohne Fünfjahrespläne ist vorbei.
Wie sieht der politische Kurs des Landes für die kommenden Jahre aus?
Die Partei wird das Hauptinstrument der Machtausübung des obersten Führers Kim Jong Un sein. Das impliziert ein gewisses Maß an kollektiver Führung, was im Vergleich zur Herrschaft von Kim Jong Il eine gewisse Verbesserung ist. Es werden mehr Meinungen ihren Eingang in die Gestaltung der Politik finden. Am Ende könnte sogar eine Reform stehen, die ja auch in China, Vietnam und der Sowjetunion von den jeweiligen Kommunistischen Parteien ausgegangen ist.
Wirtschaftlich zeigt sich eine pragmatische Herangehensweise. Kim Jong Un hat in seiner Rede das Gleichgewicht zwischen den Sektoren betont, also ein ausgewogenes Wachstum. Das heißt zwar noch nicht, dass man dieses Ziel auch erreichen wird, aber zumindest ruft die Führung nicht mehr nach einer einseitigen Priorisierung der Schwerindustrie, wie das für sozialistische Wirtschaften typisch wäre. Die Rede war auch voller erneuerter Versprechen an das Volk, die tatsächliche Lebenssituation zu verbessern. Darum will man auch im Bereich Landwirtschaft und Leichtindustrie besonders investieren.
Gab es aus Ihrer Sicht inhaltliche Überraschungen oder läuft der Kongress so, wie Sie es erwartet haben?
Interessant fand ich die Kleidung von Kim Jong Un. Er ist üblicherweise nicht im westlichen Anzug zu sehen. Offenbar will er damit weiter an das Vorbild seines Großvaters anknüpfen.
Auch die Ankündigung, auf koreanischem Gebiet Erdölquellen erschließen zu wollen, fand ich interessant. Am Samstag haben noch 40 Delegierte Reden gehalten, die alle im vollen Wortlaut abgedruckt wurden. Das deutet auf eine gewisse Verbreiterung der Führungsbasis hin.
Positiv fand ich auch die Andeutungen zu mehr Flexibilität und Eigenständigkeit beim Management der Betriebe. Diese Aussagen waren sehr vorsichtig, aber doch erkennbar. Hier wird sich nach dem Parteitag zeigen, wie ernst gemeint das war.
Wie bewerten Sie die Aussagen zur Atompolitik? Also: Ausbau der Atomwaffenkapazitäten, gleichzeitig aber auch die Ankündigung, Atomwaffen nur dann einzusetzen, wenn die Souveränität des Landes bedroht würde?
Das ist natürlich sehr schön, aber ein alter Hut. Wie Kim Jong Un auch in seiner Rede betont hat, handelt es sich hier um eine Wiederholung von bereits zuvor gemachten Aussagen. Nur hat zuvor niemand bei uns zugehört; das scheint nun anders zu sein. Übrigens waren die früheren nordkoreanischen Aussagen zum "nuklearen Präventivschlag" immer begleitet von der Einschränkung, dass dieser nur im Falle eines Angriffes ausgeführt werden würde. Genaugenommen handelte es sich also um einen Gegenschlag, keinen Präventivschlag.
Nordkoreas Propaganda hat damals einfach den amerikanischen Begriff verwendet, um zu zeigen, dass man gleichberechtigt sei. Und schließlich muss man fragen, was man unter "Bedrohung der Souveränität des Landes" versteht; das ist ein dehnbarer Begriff, der nicht näher definiert wurde.
Wir sollten uns aber keinen Illusionen hingeben: Nordkorea wird weiter an seinem Atomwaffenprogramm arbeiten.
Immer wieder wurde ja in der Vergangenheit darüber spekuliert, wie fest Kim Jong Un im Sattel sitzt. Was sagt der Parteikongress über die Machtposition Kim Jong Uns aus?
Bisher ist es zu keinen großen Personalveränderungen gekommen. Auch in den kritischen Tönen zu Formalismus, Defätismus etc. in den eigenen Reihen fehlen die dramatischen Töne, die in der Zeit um die Hinrichtung des Onkels Chang Song Taek zu hören waren. Kim Jong Un ist also offenbar derzeit der unangefochtene Führer, jedenfalls soweit man das von außen beurteilen kann.
Sie waren selbst gerade wieder in Nordkorea und sind erst vor ein paar Tagen zurückgekommen. Hatten Sie Gelegenheit, mit Teilnehmern des Kongresses selbst zu sprechen? Und welchen Eindruck hatten Sie insgesamt von der Stimmung im Land?
Als ich am 26.4. ankam, wusste noch niemand, wann der Parteitag stattfinden wird und wie lange er dauert, geschweige denn, was dabei besprochen werden wird. Ich denke, wir im Ausland sind da oft besser informiert als die Bevölkerung vor Ort. Deutlich wurde aber, dass alle sehr gespannt waren und auch eine gewisse Erwartungshaltung eingenommen haben.
Ich habe die letzten Tage der 70-Tage-Schlacht miterlebt (vor dem Parteikongress hatte es eine 70-tägige "Kampagne der Treue" gegeben, mit der die Menschen auf die Veranstaltung eingestimmt werden sollten. Anm. d. Red.). Die Menschen waren müde und erschöpft, gleichzeitig aber auch froh, dass es geschafft war. Auffallend war die ungewöhnlich gute Verfügbarkeit von Strom und Wasser, ich habe keinen einzigen Blackout erlebt. Die Qualität der neuesten Prestigebauten in Pjöngjang - wie die "Straße der Zukünftigen Wissenschaftler" oder das Wissenschaftszentrum - ist beeindruckend hoch. Gleichzeitig fragt man sich, ob die knappen Ressourcen des Landes hier wirklich effizient eingesetzt wurden.
Sie kennen Nordkorea seit Jahrzehnten, sind regelmäßig vor Ort. Was war Ihr einprägsamstes Erlebnis bei dieser Reise?
Bemerkenswert fand ich das Fehlen von Hinweisen auf eine negative Wirkung der Sanktionen. Die Läden waren voll, die Preise waren stabil, die Straßen waren voll Autos und Lastwagen. Neu sind auch die e-bikes, die ich zuvor nur in der Sonderwirtschaftszone im Nordosten gesehen hatte.
In einem der neuen Geschäfte von Pjöngjang hing im Treppenhaus ein großes Bild von Kim Jong Il, der im weißen Unterhemd und mit vorgerecktem Bauch in einer Küche steht und einen Holzspieß mit einem Meerestier in einen Topf mit kochendem Öl taucht. Diese völlig unmajestätische Pose, in der der Vater des gegenwärtigen Herrschers abgebildet ist, hat mich sehr überrascht. Auch die Ähnlichkeit der im neuen Korea-Kriegs-Museum aufgestellten Kim-Il-Sung-Statue mit dem gegenwärtigen Führer ist frappierend. Man denkt, vor einer Kim-Jong-Un-Statue zu stehen.
Im neu gestalteten Museum in Sinchon, wo an die Gräueltaten der Amerikaner während des Krieges erinnert wird, tauchen plötzlich überall Südkoreaner als Unterstützer der Amerikaner auf. Diesen Hinweis auf die Mitschuld der Südkoreaner gab es zuvor nicht. Hier erkennt man eine neue außenpolitische Doktrin.
Insgesamt sind es graduelle Veränderungen und Anpassungen, die zeigen, dass der neue Mann an der Spitze seinen Einfluss allmählich ausweitet und dem Land seinen eigenen Stempel aufdrückt. Zwar bleibt bezüglich echter Reformen noch viel zu tun, aber zumindest sind die Verbesserungen der letzten Jahre erhalten geblieben. Auch wurde das Versprechen eines besseren Lebens an die Bevölkerung erneuert. Kim Jong Un setzt sich somit selbst unter Zugzwang. Das Ende von Systemen wie der DDR hatte auch damit zu tun, dass die Führung ihre Versprechen nicht erfüllen konnte.
Rüdiger Frank ist Professor für Ostasienwissenschaften an der Universität Wien. Er beschäftigt sich seit einem einsemestrigen Sprachstudienaufenthalt an der Kim Il Sung Universität vor 25 Jahren mit Nordkorea. 2014 erschien sein inzwischen in dritter Auflage vorliegendes Buch: "Nordkorea. Innenansichten eines totalen Staates."