Maidan Jahrestag
20. Februar 2015"Die Ukraine. Die Lage dort ist so, dass man über ein Ende der Staatlichkeit reden könnte." Der Moderator Dmitri Kisseljow senkt den Daumen an seiner rechten Hand nach unten. Die Geste soll zeigen: Die Ukraine sei dem Tode geweiht. So beginnt am Sonntagabend, dem 23. Februar 2014, die Sendung "Vesti nedeli" (Nachrichten der Woche) im staatlichen russischen Fernsehsender "Rossija-1". Wenn ein Staat die Sicherheit seiner Bürger nicht garantiere, sei dieser Staat faktisch nicht existent, sagt Kissejlow. Sein Lächeln wirkt makaber.
Die Ukraine habe die Grenze zu einem Bürgerkrieg wohl überschritten, sagt der russische Starjournalist. Es werde noch mehr Blut fließen. Aus heutiger Sicht behielt Kisseljow in diesem Punkt Recht. Der Krieg zwischen pro-russischen Separatisten in ostukrainischen Gebieten Donezk und Luhansk und der ukrainischen Armee kostete bereits tausende Menschen das Leben. Dieser Krieg mit Panzern und Kanonen begann jedoch nicht in der ostukrainischen Steppe, sondern auf einem anderen Schlachtfeld. Es war ein Krieg um Köpfe.
Russische Fernsehbrille für Ostukrainer
Vor einem Jahr feiert die pro-westliche Maidan-Bewegung, genannt nach dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, einen Sieg. Das Schicksal des pro-russischen Präsidenten Viktor Janukowitsch entscheidet sich innerhalb von vier Tagen. Nach monatelangen Protesten eskaliert am 18. Februar die Gewalt in Kiew. Dutzende Aktivisten sterben bei Straßenschlachten mit der Polizei. Die genauen Umstände sind bis heute nicht aufgeklärt. Am 21. Februar gelingt es den Außenministern aus drei EU-Ländern, darunter Deutschland, einen Deal zwischen der Opposition und dem Präsidenten auszuhandeln. Noch am selben Abend flüchtet Janukowitsch überraschend. Er taucht später in Russland auf.
Das russische Fernsehen ist im Februar 2014 überall in der Ukraine zu sehen. Für die Menschen im Osten des Landes ist es laut Umfragen die wichtigste Informationsquelle. "Russische Medien haben angefangen über eine Spaltung der Ukraine zu berichten, lange vor den Ereignissen auf dem Maidan und in der Ostukraine", sagte der DW Diana Duzyk, Geschäftsführerin der Kiewer Nichtregierungsorganisation "Telekrytyka" (Fernsehkritik). Die Ukraine habe dies lange ignoriert.
Die Februar-Revolution in Kiew nahmen viele Ostukrainer durch die Brille des russischen Fernsehens wahr: Es sei ein Umsturz, orchestriert vom Westen und ausgeführt von ukrainischen Ultranationalisten. "Es hat einen vergiftenden Einfluss sowohl der pro-russischen Medien in der Ukraine, als auch Medien aus Russland in der Ukraine gegeben", erinnert sich Andreas Umland aus Kiew. Diese Rhetorik habe unter anderem die Grundlage für die Unterstützung von Separatismus auf der Krim und im Donezk Becken gelegt, so der Experte des Kiewer Instituts für euroatlantische Zusammenarbeit in einem DW-Gespräch.
Das bestätigt auch Wolodymyr Kipen, ein Soziologe aus Donezk, der heute in Kiew lebt. Der Einfluss russischer Medien in der Ostukraine habe "über einen langen Zeitraum die Grundlage für die Akzeptanz" der heutigen russischen Einmischung in der Region gelegt, sagte Kipen der DW.
Mischung aus Fakten und Fiktion
Dabei vermischten russische Journalisten in ihrer Ukraine-Berichterstattung oft Fakten und Fiktion. In seinen Sendungen sagte etwa Kisseljow, die neuen Machthaber in Kiew würden den Gebrauch russischer Sprache unter Strafe stellen. Es war eine Falschmeldung.
Außerdem hieß es, ukrainische Rechtsextremisten seien eine Lebensgefahr für Ostukrainer. Tatsache ist jedoch, dass es keine "Rachefeldzüge" der ukrainischen Rechtsextremisten gab, vor denen russische Medien gewarnt hatten. Andreas Umland wirft russischen Medien eine Verzerrung der Wirklichkeit vor. Rechtsextreme Gruppierungen wie den "Rechten Sektor" habe es bei den Protesten auf dem Maidan zwar gegeben, doch sei ihre Bedeutung "maßlos überbewertet" worden. Bei vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen landeten die ukrainischen Nationalisten jedenfalls im niedrigen einstelligen Bereich.
Kiews Dilemma
Die Saat des Misstrauens fiel in der Ostukraine offenbar auf fruchtbaren Boden. Fast drei Viertel (rund 70 Prozent) der Bevölkerung im Gebiet Donezk hielt im April 2014 den Machtwechsel in Kiew für einen vom Westen organisierten Staatsstreich. Das ist das Ergebnis einer Umfrage des Kiewer internationalen Instituts für Soziologie im Auftrag der Wochenzeitung "Dserkalo Tyschnja". Im Gebiet Luhansk waren es 61 Prozent. Fast jeder Fünfte war bereit, russische Soldaten zu begrüßen.
Die neue ukrainische Regierung erkannte die Gefahr. Ende März 2014 verbot ein Gericht in Kiew die Ausstrahlung von vier russischen TV-Sendern in der Ukraine, darunter auch Kisseljows "Rossija-1". Viele andere blieben. Erst im September 2014 - ein halbes Jahr nach Beginn des Konflikts in der Ostukraine – sperrte eine Medienaufsichtsbehörde insgesamt 15 russische Sender. Duzyk verweist auf ein Dilemma. "Wir versuchen demokratisch zu sein und stehen vor einer sehr schwierigen Entscheidung - zwischen Meinungsfreiheit und Informationssicherheit", sagt die Expertin. Sie hält die Abschaltung russischer Kanäle für richtig: "Das sind keine Massenmedien, sondern Propagandamittel".
Doch Kiew habe zu spät reagiert, meint Duzyk. Die prorussischen Separatisten schalteten schnell ukrainische Sender aus und russische ein. "Als die Separatisten die letzten Fernsehtürme unter ihre Kontrolle brachten, war mir klar, dass der informationelle Einfluss der Ukraine in der Region gegen Null tendiert", sagt der Donezker Soziologe Kipen. Spätestens Anfang Sommer sei ihm klar gewesen, dass die Ukraine den Kampf um Köpfe vieler Ostukrainer wohl verloren habe.