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Kermani: "Zeichen völliger Enthemmung"

Kersten Knipp4. Oktober 2014

Der Publizist Navid Kermani reiste Mitte September eine Woche durch den Irak. Dort hat er verschiedene Landesteile besucht. Den multi-konfessionellen Charakter des Landes sieht er unwiderruflich verloren.

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Navid Kermani (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/T. Frey

DW: Herr Kermani, im Rahmen Ihrer Reise in den Irak haben Sie sich auch in der irakischen Hauptstadt, in Bagdad, aufgehalten. Welche Eindrücke haben Sie von dort mitgenommen?

Navid Kermani: Bagdad ist eine Stadt im Ausnahmezustand. Es gibt einige wohlhabende Viertel, in denen halbwegs Normalität herrscht und die gut gesichert sind. Doch der Rest der Stadt ist sich selbst überlassen. Zwar gibt es erheblich weniger Attentate mit Autobomben als noch vor einiger Zeit. Aber stattdessen herrscht nun Kriminalität. Der Staat ist nicht präsent – und das fördert natürlich die Kriminalität.

Welches Grundgefühl hatten Sie denn während Ihres Aufenthalts in Bagdad?

In den zweieinhalb Tagen, die ich in Bagdad war, habe ich niemanden lachen sehen. Die Menschen sind höchst angespannt, haben ungeheure Traumata erlitten. Und das nicht erst seit kurzem, die Gewalt reicht ja weit zurück: der achtjährige Krieg mit dem Iran mit einer Million Toten. Dann der Golfkrieg zu Beginn der 1990er Jahre. Überhaupt die Herrschaft Saddam Husseins: Man schätzt, dass unter seiner Herrschaft zwischen zwei und viereinhalb Millionen Schiiten umgebracht wurden. Dann kam die Invasion 2003 und das darin sich anschließende Chaos.

Hinzu kommen offenbar auch die Folgen der kulturellen Zerstörung.

Ja. In den alten Museen und Palästen ist alles zerstört oder ausgeraubt. Denken Sie an die Aktion "Ali Baba": Die amerikanischen Soldaten haben die Iraker nach vielen Augenzeugenberichten regelrecht dazu ermuntert, ihre Museen und alten Paläste zu plündern. Das heißt, es ist alles weg. Für die Menschen noch viel greifbarer ist aber, dass der Staat nicht mehr funktioniert, in vielen Teilen des Landes auch einfach nicht mehr da ist. Wenn man über Jahre ein solches Chaos, eine solche Anarchie herstellt, führt das auch zu einer moralischen Korruption. Das geschieht nicht über Nacht. Aber irgendwann, nach Jahren immer neuer Schläge, führt das irgendwann auch zu einer solchen Enthemmung, wie man sie bei Einzelnen im Irak derzeit beobachten kann.

Zerstörte Synagoge im Irak (Foto: DW/J. Neurink)
Die Überreste der letzten Synagoge im Irak, in Al Qosh, das sich jetzt in den Händen des Islamischen Staates (IS) befindet.Bild: DW/J. Neurink

Woran orientieren sich die Iraker denn dann? Gibt es irgendwelche Normen?

Sie orientieren sich immer stärker an der eigenen Gemeinschaft. Die Beziehungen sind immer stärker ethnisch oder konfessionell geprägt. Das alte multikulturelle Bagdad – bis in die vierziger Jahre stellten die Juden die größte und zudem intellektuell führende Bevölkerungsgruppe der Stadt –, dieses multikulturelle Bagdad gibt es nicht mehr. Jetzt hingegen stützen sich die Menschen auf die Mitglieder ihrer jeweiligen Gruppe. In der Gruppe herrscht Solidarität, dort hilft man sich. Weniger hilft man hingegen den Mitgliedern anderer Ethnien oder Konfessionen. Der Gemeinsinn ist stark geschwunden, weil der Irak als Gemeinwesen verschwunden ist.

Wie sehen Sie die Rolle des im August zurückgetreten Premiers Nuri al-Maliki? Wäre es nicht seine Aufgabe gewesen, die Konfessionen wieder miteinander zu versöhnen?

Er hat genau das Gegenteil gemacht – und das werfen ihm nahezu alle Gesprächspartner vor, die ich getroffen habe. Die oberste schiitische Geistlichkeit, einschließlich Großayatollah Al-Sistani, hat mir erklärt, Al-Maliki habe diesen Zustand ganz bewusst herbeigeführt. Er habe die Konfessionen ganz bewusst gegeneinander ausgespielt, um Chaos zu säen, um selbst ein neuer Saddam zu werden und sich als neuer starker Mann zu präsentieren. Diese Rechnung sei nun katastrophal gescheitert.

Und das hat sich nun die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) zunutze gemacht.

Ja. In ihr ist Saddam Husseins alte Elite sehr aktiv. Die haben sich oft nur einen Bart wachsen lassen, das ist alles. Aber auch die eigentlichen Dschihadisten kommen ja in der Regel gerade nicht aus einem traditionellen Umfeld. Das gilt ja generell für den Fundamentalismus: Viele seiner Führer kamen und kommen aus einem säkularen Milieu. Sie waren etwa Ärzte und Ingenieure. Und wenn man sich jetzt die Biographien vieler IS-Führer anschaut, sieht man, dass das oft keine Absolventen der theologischen Hochschulen, sondern säkular ausgerichtete Menschen waren. In besonderem Maße gilt das natürlich für die westlichen Dschihadisten. Die haben sich dann aber gegen die Tradition gewendet und wollen nun zu einem imaginären Uranfang zurückkehren.

Welches Verhältnis haben diese Leute zur Religion?

Man sollte die religiöse Fassade ernst nehmen. Viele europäische Dschihadisten, viele Dschihadisten vor Ort, dazu der Wahhabismus, der dazu beigetragen hat, dass diese Ideologie sich ausbreiten konnte: All das ist schon religiös, das muss man ernst nehmen. Das ist eine religiöse Denkstruktur. Nur: Diese Struktur wendet sich gegen die eigene Tradition. Sie schafft – und da ist sozusagen auf ganz verquere, pervertierte Weise ein reformatorisches oder jedenfalls modernes Element drin – die Tradition ab, um zur nackten Schrift zurückzukehren. Es ist also eine anti-traditionelle Bewegung.

Wie wirkt sich der Terror des IS auf das ethnisch-religiöse Gefüge des Irak aus?

Ich glaube, es gibt einen Unterschied zwischen der derzeitigen Generation der Dschihadisten und den Attentäter von 9/11. Damals handelte es sich um hoch gebildete Menschen mit erfolgreichen säkularen Biographien. In gewisser Weise handelte es sich um Eliten. Die Leute hingegen, die jetzt aus dem Westen in den Dschihad ziehen, sind – soweit man die Biographien kennt – überwiegend Verlierertypen oder kommen jedenfalls nicht aus den sogenannten bildungsnahen Schichten. Und diese Leute bekommen dann eine unglaubliche Macht: Sie bekommen eine MG in die Hand; sie werden plötzlich zu Herrschern; sie können sich die Frauen nehmen. Es handelt sich zu einem beträchtlichen Teil auch um dezidiert kriminelle Biographien, die dann durch irgendein Erweckungserlebnis islamisch werden. Und dann dürfen sie die gleiche Gewalt wie vorher ausüben.

Sie dürfen alles nehmen – und sind plötzlich auch noch auf der legalen Seite. Das ist eine große Faszination. All das also wird jetzt auch noch religiös legitimiert. Da spielt also viel Testosteron mit, nehme ich an. Ich glaube zudem, dass der Islamische Staat (IS) die eigenen Milizen mit terrorisiert, sie soweit in den Terror hineinzieht, dass sie in ein normales Leben nicht mehr zurückkehren können. So soll ein normales Zusammenleben über Jahrzehnte vernichtet werden. Das sind Mechanismen der völligen Enthemmung. So etwas kann man auch in anderen Bürgerkriegen beobachten. Und wer sich einmal so weit enthemmt, wer sich alles erlaubt – der kehrt so einfach nicht mehr in ziviles Leben zurück, das sich nach herkömmlichen ethischen Parametern ausrichtet. Auf diese Weise kann man mit relativ wenigen Leuten eine historische Zäsur herstellen, wie es im Irak der Fall ist.

Navid Kermani ist mehrfach preisgekrönter Schriftsteller und Orientalist. Seine aktuelle Reise durch den Irak hat er im Auftrag des Wochenmagazins "Der Spiegel" unternommen. Sein neues Buch ist im C.H.Beck-Verlag erschienen: "Zwischen Koran und Kafka: West-östliche Erkundungen."

Das Gespräch führte Kersten Knipp.

© Qantara