Keine Mogelpackung
5. Dezember 2023Zwischen dem Autobahnkreuz Erfurt und den Drei Gleichen (drei Burgen, die ziemlich dicht beieinander liegen) ragt auf einer Anhöhe, der sogenannten Kummel, ein Kreuz aus Eichenholz in die Höhe. Fünf Meter ist es hoch, sodass es auch aus der Ferne gut zu sehen ist. Seit 23 Jahren steht es dort. Am 3. Oktober 2000 fand dort die erste ökumenische Dankandacht statt, genau zehn Jahre nach Inkrafttreten des Einigungsvertrags zwischen der früheren DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Welcher in der Konsequenz bedeutete, dass es nach 45 Jahren kein geteiltes Deutschland mehr gab. Gott sei Dank!
"Gott sei Dank!", haben sich evangelische und katholische Christen im Thüringer Landkreis Gotha gedacht, als sie das Kummelkreuz mit Hilfe der dortigen Freiwilligen Feuerwehr errichteten. Seither versammeln sich jedes Jahr am 3. Oktober dort Menschen zu einer ökumenischen Feierstunde.
Ich mag Kreuze in der Landschaft. Ich meine nicht die kleinen Kreuze am Straßenrand, die auf die Stelle eines tödlichen Verkehrsunfalls hinweisen. Da ist jedes eins zu viel. Ich meine die Wegkreuze, die sich mehrheitlich eher in katholischen Gegenden wie zum Beispiel im Eichsfeld befinden. Sie machen sichtbar, dass dort, wo sie stehen und gepflegt werden, Menschen leben, die mit mir den christlichen Glauben teilen.
Das Kummelkreuz dagegen ragt in einer Gegend in die Höhe, in der Christen eine kleine Minderheit sind. Dass hier ein großes Kreuz steht, ist etwas Besonderes. Wenn ich in der Nähe bin und es sehe, dann freut mich das, denn sofort ist auch der Gedanke da: in diesem Landstrich gibt es Menschen, die an Gott glauben. Ich bin hier als Christin nicht allein. Ich spüre dann jedes Mal so ein inneres Verbündetsein mit diesen Menschen, obwohl ich sie nicht sehe.
Dieses Gefühl rief beim ersten Mal eine Erinnerung in mir wach: ich war Teenager und entdeckte eines Tages im Zeitungskiosk eine Zeitschrift mit dem Titel "Begegnung" und dem Untertitel "Zeitschrift für Katholiken in Kirche und Gesellschaft". Das war für mich absolut ungewöhnlich, denn in der DDR war laut Staatsideologie Religion "Opium für das Volk" und ohnehin bald auf dem "Müllhaufen der Geschichte".
Der christliche Glaube hatte einen schweren Stand. Umso erfreuter war ich, etwas Katholisches ganz öffentlich im Zeitungskiosk zu sehen. Der Pfarrer meiner Gemeinde, dem ich meine nahezu euphorische Freude umgehend mitteilte, holte mich schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. Das sei nichts Katholisches, sondern eine Zeitschrift von vom Staat vereinnahmten Katholiken, die ganz im Dienste des Staates reden, - kurz: eine Mogelpackung.
Zurück in der Gegenwart, am Kummelkreuz: wofür steht es? Klar, als Zeichen der Dankbarkeit für die Wiedervereinigung Deutschlands. Ist das alles? Es erinnert mich nach wie vor, sobald ich es aus der Ferne erblicke, an Menschen, die wie ich an Gott und seine Frohe Botschaft glauben. Und das ist mehr als die Kirchensteuer zu zahlen und sonntags in die Kirche zu gehen. Niemand, der das Kreuz auf der Kummel sieht, soll sagen müssen, dass es eine Mogelpackung sei.
Vielmehr soll, wer es sieht, erfahren können, dass dort Menschen leben, die das wirklich ernst meinen mit dem Kreuz und der Nächstenliebe, dem Gottvertrauen, das weiß Gott oft genug schwer auf die Probe gestellt wird, und denen die Umwelt, auch um ihrer Kindeskinder willen, nicht egal ist. Menschen, die andere nicht mit "wird-schon-wieder"-Sprüchen oder Jenseitsvertröstungen abspeisen, die Schmerz und Kummer ernstnehmen und entsprechend handeln.
Solche Menschen machen das Kummelkreuz auch zu einem Zeichen für glaub-würdiges Christentum.
Andrea Wilke
Zur Person:
Andrea Wilke, Jg. 1964, Dipl.theol., verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit des Bistums Erfurt und Rundfunkbeauftragte und seit 1995 Autorin und Sprecherin kirchlicher Verkündigungssendungen im MDR und Deutschlandfunk/ Deutschlandfunk Kultur.
Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.