Keimzelle des Terrors: Spurensuche im Irak
12. April 2016Der Weg nach Bucca ist staubig. Eigentlich sind es bloß 94 Kilometer von Iraks zweitgrößter Stadt Basra bis dorthin. Doch kein Schild nennt den Namen des Lagers, das einmal das größte Gefängnis Iraks war. Man muss sich durchfragen. Plötzlich tauchen mitten in der Wüste grüne Felder am Straßenrand auf: Oliven- und Orangenbäume. Und dann ein Wachturm, Betonmauern und ein Schlagbaum. "Ja", sagt ein Wachmann, "hier ist Bucca." Während in die ehemaligen Verwaltungsgebäude der US-Armee eine Logistikfirma aus Basra Einzug hielt, werden die Gefängniszellen jetzt von einer Marineeinheit der irakischen Armee genutzt.
Alles ist noch so, wie die Amerikaner das Camp Ende 2009 verlassen haben. Nichts ist dem Erdboden gleichgemacht, wie es in Medienberichten hieß. Selbst die Ziegelei, in der die Gefangenen gearbeitet haben, steht noch. Davor ein großer Platz mit überdimensionierten Scheinwerfern, wo die Häftlinge ihren Freigang absolvierten. Dahinter dann die Baracken, die jeweils bis zu 200 Gefangene beherbergten. Kurz vor dem Haupttor steht eine Betonstele mit einer aufgemalten US-Fahne. Darunter ist auf Englisch und Arabisch geschrieben: "Ein Geschenk des amerikanischen Volkes an das irakische Volk."
IS-Anführer saß in Bucca
Als Marwan vier Jahre lang seinen Dienst für das Internationale Rote Kreuz (IKRK) in Bucca versah, waren über 30.000 Gefangene hier inhaftiert. Manche blieben über Jahre, manche Monate, einige nur Wochen. Wie lange der heutige Kopf des sogenannten "Islamischen Staates" (IS) Abu Bakr al-Bagdadi hier einsaß, kann nicht mit Bestimmtheit nachvollzogen werden. Es gibt Quellen, die behaupten, er sei nur vier Monate in Bucca gewesen, andere sprechen von Jahren. Möglich ist auch, dass der heutige IS-Chef mehrere Male inhaftiert wurde. Das erste Mal 2004, als sein Vorbild, der Jordanier Abu Musab al-Sarkawi, das Terrornetzwerk Al-Kaida im Irak gründete und der Terror gegen die US-Administration internationalisiert wurde. Und dann ein weiteres Mal nach dem Anschlag auf die goldene Kuppel in Samarra 2006.
Möglich ist aber auch, dass Bagdadi diese Attacke aus dem Gefängnis heraus organisierte. Der 45-jährige Topterrorist stammt aus Samarra. "Die meisten Verhaftungen gab es zwischen 2007 und 2008", weiß Rotkreuzmann Marwan, der seinen vollen Namen nicht nennen will. Das IKRK hat sich zum Schweigen verpflichtet. Seine Mitarbeiter arbeiten stets inkognito. Marwan war zuständig für den Besuch der Gefangenen und kümmerte sich um die Familien, die oft von weit her anreisten, um die Häftlinge zu sehen. Zwei Jahre lang habe das IKRK mit den amerikanischen und britischen Besatzern verhandelt, bis es 2005 Zugang zum Lager bekam. Marwan wohnte fortan in einem der Verwaltungsgebäude, die jetzt von einer Logistikfirma genutzt werden.
Am Anfang gab es nur Sunniten
"Die meisten Häftlinge kamen aus den sunnitischen Gebieten, die heute vom IS kontrolliert werden." Ramadi, Falludscha, die Provinzen Sallahuddin, Dijala und Ninewa. Der Widerstand gegen die US-Besatzer war anfangs vornehmlich sunnitischen Ursprungs. Fast täglich explodierten Sprengsätze, detonierten Autobomben, zündeten Selbstmordattentäter ihre Sprengstoffgürtel, um Amerikaner und Briten zu töten und alle, die mit ihnen zusammenarbeiteten. Bucca war der Knast der Aufständischen. Es herrschte ein regelrechter Konkurrenzkampf darüber, wer die meisten Menschen getötet hat. "Ich habe 300 von denen erledigt", gibt Marwan die Gespräche der Gefangenen wieder. Andere brüsteten sich mit wesentlich mehr Toten. Bis 2007 seien hier fast nur Sunniten inhaftiert gewesen.
Als der Bürgerkrieg begann, kamen auch Schiiten. Und dann saßen sie alle in ihren hellgelben Haftanzügen vor den Baracken, von wo aus man die Schiffe im Ölhafen von Umm Kasr beobachten kann: die nahezu vollständige Führungsriege des heutigen IS um den 2014 in Syrien getöteten Ideologen und Strategen Haji Bakr, sowie Mitglieder und Sympathisanten des sunnitischen Terrors von Al Kaida, Saddam Husseins ehemalige Geheimdienstoffiziere, sein Schwiegersohn, sein früherer Innenminister und schließlich auch Köpfe des schiitischen Widerstands und der entstandenen Milizen. In Bucca wurden Pläne entworfen, Ideologien diskutiert, Allianzen geschmiedet, das Kalifat verabredet, Regeln der Scharia eingeführt. "Die Sunniten mussten von den Schiiten getrennt werden", reflektiert IKRK-Mitglied Marwan die auch in Gefangenschaft weiter lebenden Spannungen zwischen den beiden Religionen. "Ansonsten hätten wir hier im Lager auch noch Bürgerkrieg gehabt."
Ein Friedhof von Überlebenden
In einer Seitenstraßen am Ufer des Schatt al-Arab in Basra sitzt Saad Abdulla al-Fatlawi in seinem Büro und schnippt mit den schwarzen Perlen seiner Gebetskette. Hinter ihm hängt eine irakische, vor ihm eine iranische Fahne. Abu Khaled, wie ihn seine Kameraden nennen, saß zwei Jahre lang in Bucca ein. Jetzt verkauft er hauptberuflich Reisen in den Iran. Im Nebenjob kämpft er auf Seiten der Schiitenmiliz Hizbollah gegen den IS und Abu Bakr al-Bagdadi an der Front in Samarra, dort wo der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten vor zehn Jahren begann. Jetzt tobt er in der ganzen Region: im Irak, im Jemen, in Syrien, in Bahrein und ein bisschen auch im Libanon. "Bucca bedeutete für mich ein Friedhof von Überlebenden", kommentiert der Schiit seine Zeit als Gefangener im amerikanischen Wüstenlager.
"Sie kamen eines nachts mit Hubschraubern, traten die Tür meines Hauses ein, schoben mir eine Pistole in den Mund, fesselten meine Hände im Badezimmer und traten mich in die Knie", erzählt der 47-Jährige den Hergang seiner Verhaftung durch amerikanische und britische Soldaten. "Sie hatten es gezielt auf mich abgesehen und verdächtigten mich, der Geldbeschaffer von Hizbollah zu sein. Ich sollte Informationen preisgeben, Kameraden verraten, ein Geständnis unterschreiben." Die Verhöre fanden in Bagdad statt, danach wurde er nach Bucca verlegt, wo Bagdadi und seine "Truppe" bereits einsaßen, wie Fatlawi berichtet.
Als die Amerikaner ihren Abzug aus dem Irak vorbereiteten, lösten sie ab September 2009 nach und nach die Gefangenlager auf. In regelmäßigen Abständen wurden jeweils 170 Häftlinge von Bucca nach Bagdad verlegt. Nur 250 wurden schließlich der irakischen Regierung überstellt. Unter ihnen waren vor allem hochrangige Würdenträger des Regimes Saddam Husseins, wie sein langjähriger Außenminister Tarek Aziz. Die anderen schickte man auf einen "Happy Bus" in die Freiheit. Saad Abdullah al-Fatlawi kehrte zunächst zu seinen zwei Frauen und fünf Söhnen nach Basra zurück. Abu Bakr al-Bagdadi gründete ein Jahr später die Organisation ISIS – Islamischer Staat im Irak und Syrien. Inzwischen hat der IS weite Teile Iraks unter seine Kontrolle gebracht und ein Kalifat ausgerufen und Fatlawis Hizbollah ist zu einer der einflussreichsten Schiitenmilizen geworden. "In Bucca wurden sie zu dem, was sie heute sind", kommentiert Rotkreuzmann Marwan die Entwicklung im Irak.