Zum 100. Todestag von Karl May
29. März 2012
70 Bücher, 200 Millionen verkaufte Exemplare weltweit, übersetzt in 40 Sprachen. Karl May sprengt mit seinen Superlativen die Dimension des Literaturbetriebes. Goethe und Schiller mögen Größeres geschrieben haben. In punkto Beliebtheit setzt sich Karl May an die Spitze. Er ist der meistgelesene deutsche Autor. Schon Ende des 19. Jahrhundert wird Karl May gefeiert, wie man es heute vom Kult um Stars aus der Musikszene kennt. Als er 1897 München besucht, drängen sich hunderte Fans vor seinem Hotel. Die Feuerwehr muss einschreiten, damit die Straßenbahn wieder fahren kann. Auf Vorträgen trifft er auf begeisterte Zuhörer und Leser - Höhepunkt der großen Karriere eines Kindes aus kleinen Verhältnissen.
Dunkle Jugendjahre
Am 25. Februar 1842 wird Carl Friedrich May im sächsischen Ernstthal bei Zwickau geboren - in eine elende Umgebung. Die bitterarme Weberfamilie bekommt 14 Kinder, neun davon sterben früh. Der kleine Karl erblindet, erst mit fünf Jahren wird die Krankheit geheilt. Einziger Lichtblick in der Tristesse: Die Großmutter liest ihm Geschichten vor, die das Kind gierig aufsaugt - der Grundstein für sein literarisches Interesse. Eine Ausbildung zum Volksschullehrer scheitert. May flieht in die Kleinkriminalität: Lange bevor er zum Wildwest-Helden Old Shatterhand und zum Orientreisenden Kara Ben Nemsi mutiert, legt er sich Fantasienamen zu. Er gibt sich als Augenarzt Dr. med. Heilig aus. Als Polizeileutnant von Wolframsdorf beschlagnahmt er angebliches Falschgeld. Er ergaunert Pelzmäntel und stiehlt sogar ein Pferd. Gewalttätig wird er jedoch nie. Insgesamt acht Jahre sitzt Karl May im Gefängnis und liest sich durch die Anstaltsbibliothek.
Genialer Hochstapler im Auftrag der Völkerverständigung
Nach seiner Entlassung 1874 beginnt er mit 32 Jahren zu schreiben: volkstümlich rührende Geschichten für ein breites Publikum, Abenteuerliches und Erzählungen, die er als Reiseberichte ausgibt. Der Beginn einer erfolg- und fantasiereichen Hochstapelei. Denn Karl May behauptet, das Beschriebene selbst erlebt zu haben. Der Redakteur des Berliner "Tagesspiegel“ und May-Biograf Rüdiger Schaper sieht das als logische Konsequenz und Ergebnis einer gewissen Eigendynamik: "May hat kurze Geschichtchen in Kolportage-Verlagen und Zeitschriften geschrieben. Dann wurden Bücher daraus. Plötzlich gab es kein Zurück mehr." Mit zunehmendem Erfolg wächst Karl May immer mehr in die Rolle seiner Helden hinein. Er lässt Fotografien anfertigen, die ihn in verschiedenen Kostümierungen zeigen. Die Waffen seiner Helden - Bärentöter, Silberbüchse und Henrystutzen - werden nachgebaut und ausgestellt. Auf Vorträgen erzählt er von "seinen" Abenteuern. Karl May verschmilzt mit den Romanfiguren Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi. Tatsächlich reist er erst sehr viel später, nach Veröffentlichung seiner Winnetou-Geschichten und seiner Orient-Reisebeschreibungen, in die fernen Länder. Seine "Berichte" und Romane entstanden in der sächsischen Heimat.
Meister der Selbstinszenierung
Die Selbstinszenierung scheint keine Grenzen zu kennen. In einem Brief an einen Leser behauptet May: "Ich spreche und schreibe: Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch, Griechisch, Lateinisch, Hebräisch, Rumänisch, Arabisch sechs Dialekte, Persisch, Kurdisch zwei Dialekte, Chinesisch zwei Dialekte, Malayisch, Namaqua, einige Sunda-Idiome, Suaheli, Hindostanisch, Türkisch und die Indianersprachen der Sioux, Apachen, Komantschen, Snakes, Uthas, Kiowas nebst dem Ketschumany drei südamerikanische Dialekte. Lappländisch will ich nicht mitzählen." Für May-Biograf Rüdiger Schaper gehört diese Form des Größenwahns zur Künstler-Persönlichkeit dazu und ist in gewisser Weise zeitgemäß: "Wir haben es mit einem Künstler zu tun, der in einer Zeit lebte, die nicht arm war an solchen wahnsinnigen Gestalten. Nehmen wir es mal ohne diese moralische Wertung. Auch Richard Wagner ist größenwahnsinnig gewesen und Nietzsche mit Sicherheit auch."
Christentum und Islam
Nach Meinung von Rüdiger Schaper folgt Karl May den Wegen der deutschen Kolonialisten, jedoch nicht mit einer gebieterischen Geste, sondern mit christlicher Mission: "Karl May baut Kolonien der Fantasie. Es sind Kolonien, die der Völkerverständigung dienen und dem Frieden." Der überzeugte Christ Kara Ben Nemsi und sein Gefährte, der Muslim Hadschi Halef Omar, reiten durch orientalische Wüsten und Berge. Doch was sie erleben, ist nur ein Aufhänger für ihre ausführlichen Gespräche über Religion und die Verschiedenartigkeit der Kulturen. Trotz der Kämpfe mit grausamen Schurken, trotz klischeehafter Darstellung orientalischer Lebensweisen, die Helden schaffen Verständnis und Respekt für das andere. "Dass der Islam zu Deutschland gehört, wäre für Karl May keine Frage", betont Schaper. Und damit ist Karl May irgendwie zeitgemäß.
Flucht ins Weltall
Um die Jahrhundertwende nehmen die Angriffe der Kritiker zu. Journalisten decken Mays Erfindungen auf und überziehen ihn mit zahlreichen Prozessen. In seiner Villa Shatterhand im sächsischen Radebeul schreibt er: "Mir ist, als müsse ich ohne Unterlass brüllen, um Hilfe schreien." May tritt eine Art Flucht aus der Realität in seine Romanwelt an – jedenfalls sind die Orte, die May Anfang des 20. Jahrhunderts erfindet, noch entfernter als Orient und Amerika. Für Rüdiger Schaper "dreht der Schriftsteller in seinen Werken 'Ardistan und Dschinnistan' vollkommen in Richtung Fantasy ab." An seinen Helden hält der Schriftsteller allerdings fest. Die beiden Freunde Hadschi und Kara verlassen mit einem Raumschiff die Erde und landen in einer merkwürdigen Welt mit riesigen Lebewesen. Sie reiten durch die Landschaften des Planeten Sitara, die nach asiatischen Vorbildern konstruiert sind. Erhalten bleibt auch der christlich-humanistische Grundtenor Mays bleibt: Überall, ob im Wilden Westen, im exotischen Orient oder im fernen Weltall, ist er auf der Suche nach Gerechtigkeit und tritt für Völkerverständigung und Frieden ein.