Kanaren ziehen immer mehr Migranten an
12. November 2020Die Kanarischen Inseln erleben derzeit eine breite Flüchtlingswelle. Allein von Samstag bis Montag kamen gut 2200 Migranten in 58 offenen Holzbooten auf den spanischen Urlaubsinseln im Atlantischen Ozean an. So viele Menschen aus afrikanischen Ländern wurden zuletzt während der Flüchtlingskrise 2006 registriert, meldete die Nachrichtenagentur Europa Press. Die meisten Migranten gingen in der Hafenstadt Arguineguin im Süden von Gran Canaria an Land. Dort platzt das Aufnahmelager des Roten Kreuzes aus allen Nähten. Mehr als 1.500 Menschen teilen sich ein Dutzend Duschen und Dixi-Klos. Viele Ankömmlinge müssen zunächst auf dem Steinboden der Hafenmole schlafen.
Die meisten Migranten kamen zuletzt hauptsächlich aus Marokko, dem Senegal, Mauretanien und Mali. "Die Mittelmeerroute ist mittlerweile gut überwacht, und die westafrikanischen Länder haben wegen der Corona-Pandemie die Rückführungsabkommen mit der EU ausgesetzt. So wollen immer mehr Menschen über die Kanaren Europa erreichen", erklärt Jose Antonio Rodriguez, Notfall-Einsatzleiter des Roten Kreuzes.
In diesem Jahr erreichten bereits 14.500 Ankömmlinge aus Afrika die spanischen Atlantik-Inseln - neunmal mehr als 2019. Die meisten werden von der spanischen Seenotrettung vor Gran Canaria entdeckt und nach Arguineguin gebracht. Hier empfängt sie das Rote Kreuz. Einige haben Schnittwunden, Verbrennungen oder leiden an starker Dehydrierung nach der tagelangen Überfahrt.
Tee und Kekse
Den meisten Migranten geht es gesundheitlich aber relativ gut. Nach Medizin-Check und Corona-Test erhalten sie trockene Kleidung und Nahrungsmittel. "Da sie seit Tagen nichts gegessen haben, gibt es nur heißen Tee und ein paar Kekse. Alles andere würde ihr Magen zunächst nicht gut vertragen", erklärt Einsatzleiter Rodriguez. Danach gibt es tagelang nur Wasser, Fruchtsäfte und belegte Brötchen.
Die Migranten müssen hier tagelang ausharren, bis die Corona-Testergebnisse vorliegen. Erst dann können sie in andere Zentren verlegt werden - die ebenfalls überfüllt sind. So wurden mehr als 2.000 Bootsflüchtlinge bereits in nahen Hotels untergebracht, die wegen der Corona-Krise derzeit leer stehen.
Das von den Medien als "Lager der Schande" getaufte Flüchtlingscamp in Arguinequin sei "vollkommen inakzeptabel, menschenunwürdig und gefährdet sogar die Gesundheit der Migranten", kritisiert Mustafa Galah Leman von der katholischen Caritas auf Gran Canaria. "Wir fordern die Regierung und alle Verantwortlichen auf, mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen und eine humanitäre Aufnahme der Flüchtlinge zu gewährleisten, wie sie eines EU-Landes würdig ist", so Galah Leman. Auch die Organisation Human Rights Watch kritisierte die Zustände in dem Lager. Das Camp ist weiträumig abgesperrt. Selbst Journalisten dürfen sich nicht nähern.
Johansson warnt vor "tödlichster" Route
Derweil zeigte sich EU-Innenkommissarin Ylva Johansson besorgt über die dramatischen Ankunftszahlen von Migranten auf den Kanaren. Dass sich so viele Menschen auf den Weg über die "tödlichste" Flüchtlingsroute machten, belege die Notwendigkeit einer Reform der Asyl- und Migrationspolitik, sagte die Schwedin der Deutschen Presse-Agentur. Durch das von ihr im September vorgelegte Paket, über das EU-Staaten und Europaparlament derzeit verhandeln, könne Migration schneller und flexibler bewältigt werden. Auf den Kanaren komme es jetzt darauf an, dass jene, die kein Recht auf internationalen Schutz hätten, effektiv zurückgeführt würden. Zugleich müsse das Recht auf Asyl gewahrt bleiben. Mit Blick auf die Corona-Krise müssten sowohl für die Ankommenden als auch für die heimische Bevölkerung grundlegende Gesundheitsstandards eingehalten werden.
Unterdessen fühlt sich die Inselregierung im Stich gelassen und von der aktuellen Welle von Ankömmlingen überfordert. Zwar versprach der spanische Innenminister Fernando Grande-Marlaska vergangene Woche nach einem Besuch auf Gran Canaria, die Insel entlasten und Flüchtlinge aufs Festland holen zu wollen. Geschehen ist seither aber wenig.
Der Regierungschef von Gran Canaria, Antonio Morales, geht hart mit Madrid und Brüssel ins Gericht: "Spanien und die EU wollen die Kanaren zu einem zweiten Lesbos und einer Art Gefängnisinsel machen. Die Strategie ist klar: Den Migranten soll das Gefühl gegeben werden, nicht in Europa angekommen zu sein", betonte Morales. Domingo Fuentes, Inseldirektor von Fuerteventura fordert, so wie sich Brüssel derzeit den Fragen der Migration aus dem Nahen und Mittleren Osten widme, solle sich die Gemeinschaft auch den Problemen annehmen, die sich aus der Migration an der südlichen Außengrenze der EU ergeben.
Wachsender Unmut in der Bevölkerung
Der Andrang auf Gran Canaria und den anderen Inseln wie Teneriffa, Fuerteventura und Lanzarote hat bereits Bürgerproteste ausgelöst. Schon im August errichteten die Einwohner von Tunte Straßenbarrikaden, um die Unterbringung von Bootsflüchtlingen in ihrem Ort zu verhindern. In der vergangenen Woche mobilisierte der Fischerverband von Arguineguin das halbe Dorf zum Protest. "Wir leben hier vom Tourismus. Wegen Corona bleiben viele Urlauber weg. Die Bilder von Flüchtlingsmassen könnten noch mehr Touristen fernhalten", glaubt Ricardo Ortega, Vorsitzender des Fischerverbands.
Bis zu 1.000 Euro kostet ein Platz in den teils nicht motorisierten Holzbooten, die von Schlepperbanden in Westafrika in die Passatwinde gezogen werden, wo die Migranten dann den Strömungen überlassen sind. Ändern sich die Winde, treiben die Boote einfach an den Kanaren vorbei und die Menschen verdursten auf dem Atlantik. Viele Boote kentern auch. Wie viele die gefährliche Überfahrt nicht überleben, weiß niemand genau. Laut der Internationalen Organisation für Migration IOM stirbt auf der Atlantikroute zu den Kanaren aber schätzungsweise jeder 16. Flüchtling. Zum Vergleich: Im östlichen Mittelmeer auf dem Weg nach Griechenland schafft es lediglich einer von 120 Bootsflüchtlingen nicht.
kle/uh (kna, dpa)