Kampf um die Gunst der Armen vor dem Ende
9. Mai 2013Die wachsenden Wirtschaftsprobleme in Venezuela, Ecuador, Argentinien und Bolivien setzen Lateinamerikas linkspopulistische Regierungen unter Druck. Beim Ringen um die Gunst der Armen ist ein Konkurrenzkampf zwischen Sozialismus, Peronismus und Liberalismus ausgebrochen.
Insbesondere in Venezuela hat sich der politische Kampf um den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", Markenzeichen von Venezuelas verstorbenem Ex-Präsidenten Hugo Chávez, verschärft. In der vergangenen Woche kam es im Parlament in Caracas zu einer Schlägerei zwischen Abgeordneten von Regierung und Opposition. Oppositionsführer Henrique Capriles erkannte die Wahl von Chávez' Nachfolger Nicolás Maduro zum Staatspräsidenten vom 14. April 2013 nicht an und reichte vor dem Obersten Gerichtshof Venezuelas Klage ein.
Erbe des Kalten Krieges
"Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist eine anachronistische Erscheinung, weil er sich nicht an die Probleme des 21. Jahrhunderts - wie Massenarbeitslosigkeit und Umweltzerstörung - anpassen konnte", meint Virgílio Arraes, Professor für zeitgenössische Geschichte an der Universität von Brasília. In den 80er und 90er Jahren hätten viele Intellektuelle in Lateinamerika nach einer Alternative zum neoliberalen Wirtschaftsmodell gesucht. "Der Versuch war notwenig und wichtig", so Arraes, "doch er stützte sich auf das damalige noch stark präsente geistige Erbe des Kalten Krieges".
Sein Kollege Thiago Gehre Galvão, Professor am Institut für Internationale Beziehungen der Universität von Brasília, geht noch einen Schritt weiter und stützt sich auf die Argumente des berühmten amerikanischen Sozialwissenschaftlers Immanuel Wallerstein. "Nicht nur die sozialistischen Ideale sind verblasst", meint er. "Alle drei großen Ideologien, also Liberalismus, Sozialismus und Konservativismus, befinden sich im Niedergang." Dies zeige sich an den zahlreichen weltweiten Protesten für politische Freiheit, Minderheitenrechte und an der Occupy-Bewegung.
Die Krise des lateinamerikanischen Sozialismus hat in erster Linie wirtschaftliche Gründe. So sind Venezuela, Bolivien und Ecuador stark von Rohstoffexporten wie Öl und Gas abhängig. Die breit angelegten Sozialprogramme zur Verminderung der Armut werden aus den Exporteinnahmen finanziert - Schwankungen der Weltmarktpreise wirken sich unmittelbar aus.
Konkurrenz mit der Kirche
Auch Argentinien, das auf die Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte wie Soja und Fleisch setzt, leidet unter wachsendem Staatsdefizit, negativer Handelsbilanz und mangelnder Kreditwürdigkeit. Als der neue argentinische Papst Franziskus nach seiner Wahl im März dieses Jahres an die kirchliche Aufgabe erinnerte, für die Armen einzutreten, sah Staatspräsidentin Cristina Kirchner sich genötigt, ihre Politik zu verteidigen. "Die Verminderung der Armut ist kein Wunder, sondern das Ergebnis unserer Sozialpolitik", stellte sie in der argentinischen Presse klar. Auch an ihrer Treue zu Hugo Chávez ließ sie keine Zweifel aufkommen: Der verstorbene venezolanische Staatschef sei weiterhin ihr Vorbild, genauso wie ihr verstorbener Ehemann Nestor Kirchner.
Wie lange die exportfinanzierte Sozialpolitik noch fortgeführt werden kann, hängt nicht nur von den Preisschwankungen für Rohstoffe am Weltmarkt ab, sondern, so Experte Galvão, "auch von den Produktionskapazitäten des jeweiligen Landes." In den drei Ländern Bolivien, Venezuela und Ecuador gebe es allerdings so gut wie keine einheimische Industrie."Der Rohstoffreichtum ist bisher nicht dazu genutzt worden, eine industrielle Basis im Land aufzubauen", erläutert Galvão.
Kredite aus China
Bis jetzt trägt vor allem China indirekt zur Stabilisierung der sozialistischen Andenländer bei. Es gehört zu den größten Abnehmern von Öl aus Venezuela und Ecuador sowie Rohstoffen aus Bolivien. Im Gegenzug versorgt es die vom Kapitalmarkt weitgehend abgeschnittenen Länder mit Krediten. Zweiter großer Finanzier sind die USA, die 40 Prozent des venezolanischen Öls kaufen.
Aus brasilianischem Blickwinkel steuert der lateinamerikanische Sozialismus in eine wirtschaftliche Sackgasse. "Es ist ein langsamer Niedergang", meint Antonio Carlos dos Santos, Wirtschaftsprofessor an der katholischen Universität von Sao Paulo. Als Begründung verweist er auf das konstante Wirtschaftswachstum in Peru. Bolivien, Ecuador und Venezuela hätten in den vergangenen drei Jahren weniger zugelegt als ihr Nachbarland. "Es gibt also Alternativen", lautet die Schlussfolgerung des brasilianischen Experten.