Kairo demonstriert gegen sexuellen Missbrauch
15. Juni 2014"Mein Körper gehört mir - ich werde es nicht zulassen, dass er erniedrigt wird", skandiert die junge Frau mit schwarzem T-Shirt und dunklem, lockigen Haar. Um sie herum halten Frauen und Männer Schilder in die Luft. Darauf haben sie Parolen geschrieben wie: "Stoppt sexuelle Belästigung" oder: "Sei ein Mann - schütze Frauen, anstatt sie zu belästigen". Viele sind am Samstag dem Aufruf mehrerer Nichtregierungsorganisationen gefolgt und zur Kundgebung "Walk like an egyptian woman" am Opernhaus von Kairo erschienen. "Die letzten Vorfälle am Tahrir-Platz haben die Menschen wachgerüttelt", sagt Ayman Nagi von der Initiative gegen sexuelle Belästigung.
Brutale Vorfälle bei Amtseinführung
Er meint die Angriffe auf fünf Frauen, die sich während der Feierlichkeiten zur Amtseinführung des neuen Präsidenten Abdelfattah Al-Sisi am 08.06.2014 ereignet hatten. Dabei wurde eine Frau von mehreren Männern brutal angegriffen: Sie wurde nackt ausgezogen, mit scharfen Gegenständen im Intimbereich verletzt und mit ätzender Säure übergossen. Das Ganze wurde zudem gefilmt und ins Netz gestellt. Das Video wurde mittlerweile auf Bitte der ägyptischen Regierung aus dem Internet entfernt.
Doch erst die Brutalität des Videos hat das Thema in der ägyptischen Öffentlichkeit wieder auf die Tagesordnung gebracht. "Das sind Umstände, vor denen wir seit Jahren warnen", sagt Ayman Nagi. Sogar Präsident Al-Sisi besuchte das Opfer im Krankenhaus besucht und entschuldigte sich öffentlich bei ihr. Er versprach, gegen sexuelle Belästigung in Ägypten härter vorgehen zu wollen.
Doch das Vertrauen hält sich vor allem bei Kritikern in Grenzen. Sie sehen den Krankenhausbesuch als PR-Auftritt. Schließlich seien es Militärs unter dem Kommando Al-Sisis gewesen, die in der Vergangenheit mehrmals entwürdigende, sogenannte "Jungfräulichkeitstests" bei Demonstrantinnen durchgeführt hätten.
Kritiker sehen Behörden in der Pflicht
Ayman Nagi sieht trotzdem in der heutigen Kundgebung ein gutes Zeichen. Er hofft, dass so eine Debatte über sexuelle Belästigung in der Gesellschaft und in staatlichen Institutionen angefacht wird. Eine, die lange andauert und nicht nur vorübergehend ist. Er sieht bei dem Problem den Staat in der Pflicht. Opfer müssten besser geschützt werden, sagt er. "Es passiert häufig, dass die Täter oder ihre Familien zur Polizei gehen und nach den Daten des Opfers fragen, und die bekommen sie auch", erzählt er erstaunt. "Die Täter können dann das Opfer erpressen. Das kann so nicht weitergehen."
Zudem gehe die Polizei zu lasch mit solchen Fällen um, so der Vorwurf der Demonstranten. Sexuelle Belästigung gilt in der ägyptischen Gesellschaft als Kavaliersdelikt. "Oft hören wir Geschichten, dass Opfer zur Polizei gehen und von den Beamten zu hören bekommen, sie sollten lieber auf eine Anzeige verzichten, um die Zukunft des Belästigers nicht zu gefährden", sagt Demonstrantin Maha Gazzar. Noch schlimmer seien Berichte von Frauen, die in Polizeistationen sexuell missbraucht wurden, so Gazzar. "Es geht hier nicht nur um sexuelle Belästigung auf der Straße. Wir lehnen jede Gewalt gegen Frauen ab. Egal, wer die Täter sind."
"Harte Strafen allein können das Problem nicht lösen"
Maha Gazzar sieht die Bewegungsfreiheit der Frauen in Ägypten durch die Belästigungen bedroht. Das Thema betreffe jede. "Fast alle Anwesenden hier wurden sexuell belästigt", sagt sie und wirft einen Blick in die Menge. "Wir können nicht mehr schweigen." Die Gründe, warum Männer aus unterschiedlichen Altersgruppen Frauen angreifen, sind weitgehend unklar. Die Täter, vor allem bei Massenübergriffen, bleiben meist anonym. Maha Gazzar schließt eine sexuelle Motivation aus. Sie vermutet eher Rache hinter den Taten - dafür, dass Frauen seit der Revolution im öffentlichen Raum immer präsenter werden.
Ein paar Schritte weiter gibt ein älterer Mann einer ausländischen Reporterin ein Interview. "Die Todesstrafe ist das Mindeste, was solche Täter verdienen", sagt er wütend, als gäbe es noch härtere Strafen als den Tod. Eine Forderung, die als Ausdruck der Ohnmacht gegen die brutalen Übergriffe zu interpretieren ist.
"Harte Strafen können höchstens ein paar Täter abschrecken", sagt hingegen Ayman Nagi. "Wenn die Gesellschaft aber weiterhin schweigt und sexuelle Belästigung gegen Frauen als normal betrachtet, können keine Gesetze helfen", erklärt er. Er fordert mehr Aufklärung, doch dabei müssten Staat und Zivilgesellschaft zusammenarbeiten.
"Frauen sind selber Schuld"
Inzwischen ist es etwas kühler geworden vor dem Kairoer Opernhaus, die Nachmittagshitze geht langsam zurück, die Straßen werden immer voller. Immer mehr Menschen kommen zur Kundgebung. Autofahrer halten kurz an, meist ungewollt, und fragen, was hier passiert. "Solche Sachen hatten wir früher nicht", sagt ein Taxifahrer mit oberägyptischem Dialekt. "Die Frauen sind heute selber Schuld, wenn sie belästigt werden. Sie provozieren es doch selbst, wenn sie enge Klamotten oder Miniröcke tragen." Ohne auf Reaktionen zu warten, rast er in Richtung Innenstadt. Seine kurzen, lauten Sätze drücken das aus, was wohl die meisten Ägypter denken dürften. Sie zeigen den Teilnehmern der Kundgebung, dass ihr Kampf kein leichter sein wird.