Havertz und der Fluch des großen Talents
18. Dezember 2019Auf einmal ging ein Pfeifkonzert durch das Leverkusener Stadion, obwohl es zuvor fast völlig still war. Die Anhänger von Bayer 04 Leverkusen schmollten ob der Leistung ihres Teams und verweigertern jegliche Unterstützung. Aber in diesem Moment, in der 71. Minute, trottete Kai Havertz langsam in Richtung Außenlinie und ließ dabei seine Schultern und seinen Kopf sichtlich hängen. Er schien die Last dieser erneut völlig verunglückten Partie gegen Hertha BSC mit sich zu tragen. Mit 0:1 unterlag Leverkusen nach einem Treffer von Karim Rekik und vor allem einer bekam den Frust des Publikums zu spüren. Die Fans quittierten den Auftritt Havertz' mit deutlich hörbarem Missfallen.
Sie waren enttäuscht von ihrem hochgehandelten Talent und dessen Kollegen, die nach der Derbypleite beim 1.FC Köln (0:2) erneut eine schwache Leistung zeigten. Sie ließen ihren Frust vor allem an dem 20-jährigen Havertz aus, hätten aber wohl auch so ziemlich jeden anderen Bayer-Kicker auswählen können. Kein Leverkusener erreichte sein Leistungslevel. Und da Havertz an guten Tagen herausragt, tut er es eben auch an schlechten. Er ist der Hoffnungsträger der Werkself, strahlt mit seinen Leistungen weit über das Leverkusener Umfeld hinaus - und das weckt Erwartungen. Havertz' großes Talent ist vor allem ein Segen, kann in solchen Situationen aber auch zum Fluch werden, da von diesem Spieler stets besondere Leistungen erwartet werden und er deshalb besonders kritisch beäugt wird.
Kombinationsfußballspieler und kein Kämpfer
Wohl auch deshalb versuchte Trainer Peter Bosz ein wenig die Wogen zu glätten, als er behauptete, die Pfiffe seien nicht für Havertz, sondern für ihn gedacht gewesen, weil er seinen Lieblingsschüler vom Platz nahm. "Ich wollte am Ende mehr Druck entwickeln. Und Kai ist ein Kombinationsfußballspieler und kein Kämpfer. Deshalb habe ich Paulinho für ihn ins Spiel gebracht", sagte Bosz. Das war eine ehrenwerter Versuch des Niederländers, aber seine Worte waren nur sehr schwer zu glauben.
Die Leverkusener Spieler hatten dagegen eine ganz andere Wahrnehmung als ihr Trainer. Jonathan Tah, der ebenfalls einen sehr schlechten Tag erwischt hatte, bezog die Pfiffe eindeutig auf Havertz. "Ich finde das scheiße. Das führt dazu, das wir ihn in der Kabine motivieren müssen", sagte der Verteidiger. Und auch Lars Bender fand eine klare Zuordnung in Sachen Pfeifkonzert: "Das ist nicht einfach für den Jungen. Man darf auch nicht vergessen, was er für ein hervorragender Spieler ist und was er schon für den Verein geleistet hat."
Havertz wirkt müde in diesen Dezember-Tagen. Nach seinem Muskelfasserriss, den er nach gut zwei Wochen Ende November auskuriert hatte, hat er seine Leichtigkeit noch nicht wiedergefunden. Seine Bewegungen sehen angestrengt aus, seine zuvor gezeigte Dynamik kommt nicht mehr zum Vorschein. Torgefahr entwickelt er so gut wie keine. Er ist derzeit meilenweit von seiner Form entfernt, die ihn zu diesem außergewöhnlichen Spieler gemacht hat.
Gedanken an andere Vereine
Es dürfte aber nicht nur die körperliche Müdigkeit sein, die den jungen Profi hemmt. Er ist der 100-Millionen-Mann im Leverkusener Kader. Die Frage ist nicht, ob er irgendwann zu einem europäischen Spitzenklub wechselt, sondern, ob er womöglich bereits in der Winterpause oder erst im kommenden Sommer die Werkself verlassen wird. Selbst Leverkusenes Sport-Geschäftsführer Rudi Völler geht nicht mehr davon aus, dass er Havertz noch länger halten kann. Die Verlockungen aus der großen, weiten Fußball-Welt scheinen Einfluss auf Havertz zu haben.
Lars Bender hat Verständnis für die mentale Schwere, die derzeit auf Havertz liegt. "Es ist doch ganz normal, dass sich solch ein Spieler auch Gedanken über seine Zukunft macht", so der Defensivspezialist. Allerdings leidet das gesamte Spiel des Teams von Peter Bosz unter der derzeitigen Lethargie des großen Talents. Die Leverkusener scheinen geradezu abhängig zu sein von den Einfällen und der Ballfertigkeit ihres großen Talents. Läuft es bei ihm nicht, läuft es beim gesamten Team nicht. Keine guten Vorzeichen für eine Zukunft ohne Havertz.
Eine Woche der Leverkusener Pleiten
Und so hat sich der Klub seine gute Ausgangsposition in der Bundesliga mit den beiden jüngsten Pleiten gegen Köln und Berlin geradezu leichtfertig wieder verspielt. Und auch die Pleite eine Woche zuvor in der Champions League gegen Juventus Turin (0:2) sorgte für den Abstieg in die Europa League. "Das einzig Gute ist, dass die Woche jetzt vorbei ist", sagt Bosz mit leiser Ironie.
"Das ist eine unnötig schwere Situation, in die wir uns gebracht haben. Das letzte Hinrundenspiel in Mainz hat für uns schon fast Endspielcharakter, wenn wir weiter oben dran bleiben wollen", resümierte Lars Bender mit ernster Miene. Und dafür dürfte Bender auch auf einen deutlich verbesserten Kai Havertz hoffen.