Gottfried Böhm wird 100
23. Januar 2020Noch immer versucht er, täglich ins Büro zu gehen. Dann kämpft sich Gottfried Böhm mit seinem Rollator, betreut von einer Pflegerin, in sein ehemaliges Wohnhaus im Kölner Stadtteil Marienburg. Das Gebäude erbaute sein Vater Dominikus im Jahr 1928, auch er ein Architekt mit großem Namen. Gottfried Böhm taucht jeden Tag aufs Neue ein in die Schaffenswelt seiner Familie. Zu seinem Ritual gehört es, im verglasten Erker des Konferenzraums einen Kaffee zu trinken. Das Haus ist das kreative Hauptquartier der angesehenen Architektenfamilie. Heute wirken hier drei seiner vier Söhne. Eine Architektendynastie - schon Gottfried Böhms Großvater war im Baugeschäft tätig - über die 2015 sogar ein Kinofilm gedreht wurde.
Kopf der Architektenfamilie Böhm
In der Nachkriegszeit entwirft Gottfried Böhm mehr als 60 Kirchen, viele von ihnen sind inzwischen zu Ikonen der Nachkriegsarchitektur geworden, allen voran die trutzige Wallfahrtskirche "Maria, Königin des Friedens" in Velbert-Neviges. Sie erinnert an ein wild zerklüftetes Felsmassiv. Die Fertigstellung am 22. Mai 1968 macht Böhm schlagartig zu einem bedeutenden Vertreter des Beton-Brutalismus.
Der am 23. Januar 1920 in Offenbach geborene Architekt will eigentlich Bildhauer werden. Skulptural sind auch viele seiner Kirchen- und Profanbauten, die er kühn in die Landschaft oder in die Städte stellt. Sie sind Zeugnisse seiner Doppelbegabung. Mal versieht er seine Bauten mit schlanken Minarett-Türmen, mal mit in den Stein gedrechselten Wendeltreppen: harte Kante und beschwingte Rundung, Nüchternheit und Zierrat - Böhm schöpft aus einem Füllhorn scheinbarer Gegensätze, zu bestaunen etwa an Böhms berühmten Bensberger Rathaus.
Experten bescheinigen Gottfried Böhm, wie schon seinem Vater Domenikus, "Mut zum Monument". Viele seiner Bauten aus Beton, Stahl und Glas kennzeichnet eine kühne Statik mit Hängedächern, Bogenkonstruktionen, Kuben, Zylindern oder Kegeln. Typisch für Gottfried aber ist die sogenannte Rabitztechnik. Dabei wird Gips oder Mörtel auf ein Drahtgewebe aufgetragen. Diese wendete er schon bei seinem Erstlingswerk an, der Kapelle "Madonna in den Trümmern" in Köln, errichtet 1947. Die achteckige Kapelle erhebt sich zwischen den Ruinen der kriegszerstörten Kirche Sankt Kolumba über einer spätgotischen Madonnen-Statue, die den Bombenhagel wie durch ein Wunder überstanden hat und unversehrt geblieben ist. Sie wurde zu einem Symbol des Lebens.
Das Erstlingswerk wurde überbaut
Seine Architektur polarisiert aber auch. Kritiker beklagen etwa, dass der Innenraum des 1980 von ihm entworfenen multifunktionalen Bürgerhaus "Bergischer Löwe" in Bergisch Gladbach nur bedingt nutzbar sei. Von außen wirken die Erker, Stahlmarkisen, Türmchen und Treppen etwas überladen. Ähnlich ornamental wirken die an gestapelte Container erinnernden Kölner "WDR-Arkaden", in dem ein Teil des Westdeutschen Rundfunks residiert. Auch sie bezeugen, dass Böhm den optisch schweren wie konservatorisch heiklen Beton im späteren Werk gegen Stahl und Glas eintauschte.
Böhms bedauernswert unwirtliche Wohnsilos in Köln-Chorweiler sollten sich als Bausünden erweisen. Noch betroffener aber macht es Böhm, als die Kölner Kapelle "Madonna in den Trümmern" 2007 überbaut wird. Inzwischen ist sie Teil von Kolumba, des Kunstmuseums des Erzbistums Köln, das der Schweizer Peter Zumthor auf dem ursprünglichen Kirchengrundriss errichtet hat. Böhms trauriger Kommentar: "Schade, dass die Kapelle völlig eingebaut und aus dem Stadtbild herausgenommen ist."
Sein wichtigstes Werk bleibt die 1968 fertiggestellte Wallfahrtskirche im rheinischen Neviges. Böhm konstruierte sie als großes Zelt für das "wandernde Volk Gottes". Im Inneren taucht der Besucher in ein mystisches Dunkel - wofür nicht zuletzt die vom Meister selbst gestalteten Farbfenster sorgen. Doch auch der Dom von Neviges spaltet die Gemüter. Manch einer verspottet den Betonbau mit seinen verschachtelten Dachspitzen gar als Affenfelsen.
Pritzker-Preis für den Kölner Baumeister
Ob Kapelle oder Felsendom - Böhm pflegte einen besonderen Arbeitsstil, den er an seine Familie weitergab. Nicht nur drei der vier Söhne sind vom Fach, sondern auch seine 2012 verstorbene Frau Elisabeth war es. Im Familienkreis gab es "ein gegenseitiges Reinsteigern in Ideen", wie sein Sohn Peter berichtet. Das habe schon mal zu "schmerzhaften Situationen" geführt. So sei es vorgekommen, dass neben dem Entwurf aus der Feder der jungen Generation nach dem Mittagessen plötzlich eine sehr alternative Zeichnung des Seniors gelegen habe.
Das Deutsche Architektur Museum in Frankfurt würdigt den Jubilar, der 1986 mit dem renommierten Pritzker-Preis ausgezeichnet wurde, in diesen Tagen mit einer großen Geburtstagsausstellung. Sie heißt "Böhm 100" und legt das Augenmerk auf Böhms Beton-Dom von Neviges. Der Meister selbst sitzt dann wohl wieder in seinem Fenstererker und genießt seinen Kaffee. Alltagsroutine, auch an seinem 100. Geburtstag.