Künstler nach der Flucht: Musikerin Nneka Egbuna
17. Dezember 2017"Wake up, Africa, wake up and stop blaming. Open your eyes, eyes, stand up and rise!" ruft die Sängerin mit dem kunstvoll geschlungenen, bunten Turban der Menge entgegen. "Wach auf, Afrika, hör auf zu jammern, öffne die Augen und steh auf!" Der Saal bebt, trotz der noch frostigen Aprilnacht klettert die Temperatur in der Hamburger "Fabrik" auf über 30 Grad. Nneka strahlt, stimmt das nächste Lied an.
Wenn man sie das erste Mal sieht, traut man ihr eine solche Bühnenpräsenz gar nicht zu. Im persönlichen Gespräch ist sie reserviert, fast schüchtern, aber auf der Bühne lebt sie auf - mit ihren Songs. Und die haben es in sich: Sie singt von vergessenen Traditionen, von ihrem tief verwurzelten Gottvertrauen und immer wieder von Nigeria, ihrer Heimat. Davon, dass Ölkonzerne das Land ausbluten und Korruption und Bestechung die Menschen hilflos zurücklassen.
Ihre Geburtsstadt Warri: alles andere als ein Paradies
Geboren wurde Nneka Egbuna am 24. Dezember 1980 im nigerianischen Warri, einer Hafenstadt im Südosten Nigerias, in der Seehandel, Öl- und Stahlindustrie die wichtigsten Wirtschaftszweige sind. Besonders die Ölindustrie verursacht große Umweltschäden - von denen Nneka auch in ihren Liedern singt.
Sie ist Christin und vielleicht liegt es an ihrem Geburtsdatum, dass sie ein sehr gläubiger Mensch ist: Der 24. Dezember wird von Christen weltweit als Tag der Geburt Christi gefeiert. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass sie in ihrem Leben nichts geschenkt bekommen hat, immer kämpfen musste und oft genug niemand anderem als ihrem Gott vertrauen konnte.
Nneka ist das jüngste von vier Geschwistern, deren deutsche Mutter die Familie verlassen hat, als Nneka zwei Jahre alt war. Nach der erneuten Heirat des Vaters ließ die neue Frau kein gutes Haar an den Kindern der ersten Ehefrau. Ihr Bruder Anatol beschreibt in zwei biographischen Büchern, wie die Stiefmutter vor allem die beiden jüngsten, ihn und Nneka, quälte und terrorisierte. Nneka selbst spricht nicht über ihre Vergangenheit. Sie sagt bloß, "dass gewisse Umstände" sie dazu gebracht hätten, Nigeria in Richtung Hamburg, der Heimatstadt ihrer Mutter, zu verlassen. Das war 1999.
Zunächst lebt die damals 19-Jährige dort in einem Asylbewerberheim in der Nähe des Flughafens, später zieht sie in eine Jugendwohngruppe. Nneka ist ehrgeizig, lernt schnell und sehr gut Deutsch: Nach eineinhalb Jahren macht sie Abitur auf einem Gymnasium, das einen Abschluss-Zweig für Nicht-Muttersprachler anbietet. "Meine Motivation war immer der Wunsch nach Wissen", sagt sie. Ihr Blick, der stets ein wenig skeptisch wirkt, schweift ab. "Ich hatte die Gelegenheit, ein anderes Land zu entdecken, eine andere Sprache zu lernen und vor allem in einer friedlichen Umgebung zu leben."
Zur Musik kam sie eher zufällig
Nach dem Abitur studiert Nneka Ethnologie, Anthropologie und Afrikanistik und macht nebenher Musik. Sie hat schon immer gesungen. Und als sie den deutsch-afghanischen DJ Farhot kennen lernt, findet sie jemanden, der ihre Songs mit dem richtigen Beat zu unterlegen weiß: "Farhot hat Hip-Hip in mein Leben gebracht", erzählt Nneka. "Und ich habe mein afrikanische Seite eingebracht. Er ist aus Afghanistan. Und dann wir zwei in Deutschland, das war einfach ein hervorragender Mix."
Mit einem von Farhot produzierten Demo-Tapes im Rucksack läuft Nneka Anfang 2000 durch die Straßen Hamburgs, auf der Suche nach einem Job. Sie sieht das Firmenschild vom Plattenlabel "Yo Mama Records", die unter anderem Fettes Brot, Eins Zwo und Patrice unter Vertrag hatten, und stutzt. Darunter steht das Firmenmotto: "Mama ist die Beste". Für Nneka, deren Namen "Mama ist die Heiligste" bedeutet, ein Wink des Schicksals.
Sie spaziert rein und möchte den Chef sprechen. Label-Manager Martin Schumacher ist beeindruckt von ihrer Courage und nimmt sie unter Vertrag. Er ist bis heute ihr Manager. Auch mit DJ Farhot, ihrem Produzenten der ersten Stunde, arbeitet sie noch immer zusammen. Eine starke "musikalischen Familie" und eine überaus kreative.
Insgesamt fünf Alben hat Nneka bis dato veröffentlicht. Bereits ihr Debut "Victim of Truth" wurde von der internationalen Presse gefeiert. So schreibt etwa die englische Sunday Times, Nneka sei Lauryn Hills legitime Nachfolgerin. In den darauffolgenden Jahren wird Nneka auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt und tourt mittlerweile durch die ganze Welt.
Mittlerweile ist sie Teil beider Welten
Ihre Songs haben auch über die Jahre nichts von ihrer politischen Brisanz eingebüßt: In "Pray For You" vom letzten Album "My Fairy Tales" prangert die gläubige Christin etwa die Morde von Boko Haram an. Sie nutzt ihre weltweite Bekanntheit, um sich auch mit humanitären Projekten zu engagieren. "Rope" etwa will Jugendliche ermutigen, durch Musik oder Mode eine Perspektive abseits der Gewalt zu suchen. Auch engagiert sie sich als Botschafterin der Frauenrechtsorganisation "African Women's Development Fund".
Über ihr Privatleben spricht sie nach wie vor verhalten. Ihre eigene Zerrissenheit als Deutsch-Afrikanerin war und ist weiterhin für sie ein Thema. Aber in den letzten Jahren hat sie immer mehr Frieden mit sich und ihren zwei Kulturen geschlossen und pendelt zwischen Hamburg und Lagos: "Ich fühle mich nirgends wirklich zu Hause, um ehrlich zu sein", sagt sie und blickt mit ihren ernsten, dunklen Augen unter ihren Locken hervor. Am wichtigsten sei es, sich in sich selbst zu Hause zu fühlen und dabei nie zu vergessen: "Das Leben ist eine Reise".
Möchten Sie hören, wie es klingt, wenn Nneka singt?
Hier geht's zum multimedialen Online-Special "Nach der Flucht".
Hier finden Sie die TV-Dokumentation "Nach der Flucht" auch bei YouTube.