Künftig mehr Imame "made in Germany"
22. Januar 2024Nun hat es Osman Soyer ganz offiziell. "Ich bin Religionsbeauftragter", sagt er der DW. Er steht im Untergeschoss der Sehitlik-Moschee in Berlin-Neukölln. Wenige Minuten vorher trat er dort ganz offiziell auf die kleine Bühne, bekam einen weißen Kaftan, den er sich umlegte, ein passendes weißes Käppi.
Vielfältige Aufgaben
Der 32-jährige Soyer ist einer von 28 jungen Männern und Frauen, die die bundesweit größte Islamorganisation DITIB zu "Religionsbeauftragten" ausgebildet hat und Mitte Januar in Berlin offiziell ins Berufsleben entlässt. Religionsbeauftragte sollen sich in vielfältigen seelsorgerlichen Feldern engagieren; dazu kann auch das Amt des Imam gehören, aber der Begriff ist weiter gefasst.
Bereits seit einigen Monaten ist Soyer als islamischer Religionsbeauftragter in Alfter bei Bonn tätig. Die Gemeindearbeit, sagt er, stehe an erster Stelle. Das sei ein sehr großer Umfang an Tätigkeiten: "Ich unterrichte Schüler, ich bin Vorbeter, Prediger, Seelsorger. Wir gehen auch zu Hochzeiten, ich mache Beerdigungen." Und dann erläutert er noch, dass er aber nicht aus Bonn oder aus Alfter komme. "Ich bin Mainzer Junge", betont er, und man hört dabei den Dialekt der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt. Seine Eltern kamen 1972 aus der Türkei nach Deutschland, der Vater habe in Rüsselsheim im großen Opel-Werk gearbeitet. Ein Leben, typisch für viele postmigrantische Leben in Deutschland.
Die Feier in Berlin spiegelt diese Entwicklung wider. Rund 900 Moscheegemeinden der "Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion" (DITIB) gibt es in Deutschland (nach Schätzungen gibt es bundesweit mehr als 3000 Moscheen und muslimische Gebetshäuser). Seit langer Zeit wurden sie ausschließlich von der staatlichen und mächtigen Religionsbehörde Diyanet aus der Türkei bezahlt, die Imame aus der Türkei entsandt, um in türkischer Sprache zu predigen und seelsorgerlich zu arbeiten. Deutsch – das bestätigte auch die DITIB – sprachen die wenigsten von ihnen. Dabei zeigen auch während der vergangenen Monate Äußerungen der Diyanet-Spitze und auch aus DITIB-Gemeinden, wie heikel das ist. Manchmal wirken sie wie Vorposten von Erdogans Träumen eines neuen Osmanischen Reichs.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt
Und nun steht Eyüp Kalyon, DITIB-Generalsekretär, am Rande der Feier und beschwört die neuen Perspektiven. Sein Verband orientiere sich mit dem Ausbildungsprogramm, einer "wichtigen Dienstleistung", am Bedarf von Muslimen in Deutschland und engagiere sich als Religionsgemeinschaft dafür personell und finanziell. Die Ausbildung zeige, dass sein Verband für den "gesellschaftlichen Zusammenhalt" stehe.
In Zukunft werde die deutsche Sprache "noch viel stärker in den Vordergrund treten", sagt er der DW, "und es wird die Sprache sein, die uns alle bindet, die vor allem die muslimische community bindet. Deswegen ist unsere Ausbildungssprache Deutsch." Dabei bleibe mit Blick auf ältere Gemeindemitglieder auch die türkische Sprache wichtig.
Eigentlich steht die Forderung nach einer Ausbildung muslimischer Geistlicher in deutscher Sprache in Deutschland seit vielen Jahren im Raum. Sie ist stets Teil integrations- und religionspolitischer Debatten. Und bei allen Etappen der erstmals 2006 gestarteten Deutschen Islam-Konferenz (DIK) ging es immer um die (fehlende) Sprachkompetenz der Imame. Politiker klagten darüber, muslimische Verbände drängten auf andere Themen.
Lange Zeit bot die Ahmadiyya-Gemeinschaft die einzige Imam-Ausbildung in Deutschland. Sie ist eine Ende des 19. Jahrhunderts im heutigen Pakistan entstandene Gruppierung, die sich, strenggläubig, als Reformbewegung versteht. Seit 2008 bildet sie in einem siebenjährigen Kurs deutschsprachige Imame aus, die in Ahmadiyya-Gemeinden bundesweit tätig sind.
Erst vor gut vier Jahren starteten zwei ausgesprochen unterschiedliche Kräfte weitere Anläufe. Da war die DITIB, die in Dahlem in der Eifel aus einer ehemaligen Jugendherberge ein Ausbildungszentrum machte und 2020 startete. Ein Jahr später präsentierten Islamwissenschaftler der Universität Osnabrück und deutsche Muslime mit bosnischem Hintergrund das "Islamkolleg Deutschland" (IKD). Schon vorher, bei einem Auftritt vor einem IKD-Plenum, würdigte der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer das IKD als kooperativ und sprach von einer guten Nachricht für die Muslime in Deutschland. Es gehe darum, dass "islamischer Kultus" in Deutschland künftig weitaus stärker "der Lebenswirklichkeit der in Deutschland lebenden Muslime entsprechen wird".
Bundesinnenministerium pusht Neuausrichtung
Die DITIB in Dahlem, das Islamkolleg in Osnabrück… Beide haben bereits einige Dutzend Absolventen verabschiedet, aus beiden Einrichtungen stammen erste Imame im Dienst, die Gebeten vorstehen und Freitagsgebete leiten. Und doch kam Mitte Dezember eine Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums durchaus überraschend.
Da verkündete Bundesinnenministerin Nancy Faeser, dass sich ihr Haus nach langen Verhandlungen mit Diyanet und DITIB auf die schrittweise Beendigung der Entsendung staatlich bediensteter Religionsbeauftragter aus der Türkei verständigt habe. "Das ist ein wichtiger Meilenstein für die Integration und die Teilhabe muslimischer Gemeinden in Deutschland", so die Ministerin. Künftig sollten pro Jahr 100 Imame in Deutschland ausgebildet werden.
Zu dieser grundlegenden Neuausrichtung, die in deutschen Medien eher wenig Nachhall fand, haben dem Vernehmen nach verschiedene Faktoren beigetragen. Neben den Gesprächen des Bundesinnenministeriums verschärfte bei dem Thema das Auswärtige Amt sein Drängen gegenüber Ankara. Und generell spielt wohl auch der allgemeine Rechtsruck in Europa und das Nachdenken über Integration und kulturelle Identität eine Rolle.
Beispiel Frankreich
Deutlichstes, aber längst nicht einziges Beispiel: Seit Jahresbeginn 2024 lässt Frankreich keine neu aus dem Ausland entsandten Imame mehr ins Land. Die Geistlichen sollen an französischen Hochschulen ausgebildet werden. Ein Änderung, die Präsident Emmanuel Macron bereits Anfang 2020 auf den Weg gebracht hatte und die nun in Kraft trat. Französische Imame kamen bislang zumeist aus Marokko, Tunesien und Algerien. Wer aus diesen Staaten bereits als Imam in Frankreich ist, kann noch bis Ende März seinen Status ändern.
Dazu mag passen, dass DITIB-Generalsekretär Eyüp Kalyon bei seiner Rede und im direkten Gespräch neben Dahlem auch das französische Straßburg erwähnt. Auch dort hätten die neuen Religionsbeauftragten einen Teil ihrer Ausbildung absolviert.
Bewegung beim Verband
Eyüp Kalyon (36) steht, wie auch der "Mainzer Jung" Osman Soyer (32), spürbar für eine neue Generation. Kalyon ist gebürtiger Wuppertaler mit deutschem Pass und deutschem Abitur. Seine Großeltern kamen aus der Türkei. Und sie sprechen - wie viele der 28 aktuellen Absolventen - mindestens zwei Sprachen fließend: Deutsch und Türkisch.
Beobachter schauen mit Spannung auf die DITIB, die als Verband kein Monolith mehr sei, in der einige sehr gute Leute aufstiegen und die sich allmählich vom Diyanet löse. Zugleich gibt es seit dem 7. Oktober auch Berichte über Äußerungen, aus denen gegensätzliche Töne klingen: Harte Kritik an Israel, auch Antisemitismus, Verständnis für Erdogan. Kalyon geht in seiner Rede ausdrücklich kritisch auf den Angriff der Hamas auf Israel ein.
Beim Festakt der DITIB in Berlin sprach als offizieller Ehrengast ein Vertreter des Bundesinnenministeriums. Jörn Thießen ist Abteilungsleiter der Abteilung H (Heimat, Zusammenhalt und Demokratie). "Wir streben an, im Jahr einhundert Imame und Religionsbedienstete auszubilden und dann zu sehen, dass wir um diesen Umfang die Entsendungen aus der Türkei beenden", erläutert er im DW-Gespräch. Damit wäre der formelle Einfluss Ankaras in knapp zehn Jahren beendet.
Thießen blickt gleichermaßen auf das DITIB-Engagement wie auf das Islamkolleg in Osnabrück. "Genau das ist der richtige Schritt: Menschen, die hier sind, die hier leben, die hier wohnen, die unsere Sprache sprechen, die die Kultur sprechen und die die Brücken in die Gesellschaft bilden, können genau das, was wir wollen."
Bei der Feier in Berlin wurden Gäste anderer Verbände begrüßt. Vom Islamkolleg aus Osnabrück war niemand dort. Kalyon betonte, man prüfe "derzeit" eine Zusammenarbeit mit dem IKD "im engen Austausch mit dem Bundesinnenministerium". "Wir orientieren uns am Bedarf, da haben wir alle eine Verantwortung."
Sein Chef, der DITIB-Vorsitzende Muharrem Kuzey, unterstrich in seiner Rede, der Verband habe sich von einer "Gastarbeiterorganisation hin zur größten Islamischen Religionsgemeinschaft Deutschlands" entwickelt. Diese biete "nicht nur türkischstämmigen Muslimen, sondern Muslimen aus allen Ländern der muslimischen Welt eine religiöse Heimat".
Nah an den Menschen in Deutschland
In Osnabrück spricht Samy Charchira, Vorstandsvorsitzender des Islamkollegs, bei einem Telefonat mit der DW von einer "guten Nachricht" angesichts der verstärkten Ausbildung von muslimischen Religionsbediensteten in Deutschland. "Wir haben Strukturen etabliert und erste Leute ausgebildet", sagt er. "Wir wollen in Deutschland ausgebildete Imame, die nah an den Menschen in Deutschland sind." Für ihn seien die Vorgaben aus dem Bundesinnenministerium "richtig und wichtig". Er hoffe auf die weiteren Gespräche mit dem Ministerium und der DITIB.
Bei der Ausbildung muslimischer Religionsbediensteter in Deutschland passiert etwas – nach langen Jahren des Drängens und Wartens. Aber viele Fragen - vor allem die Finanzierung der DITIB-Imame ohne die türkische Seite - ist noch offen. Erst allmählich beginnt eine Debatte über mögliche neue Formen. Eine davon ist ein Stiftungskonzept.