Was die Werke von Käthe Kollwitz erzählen
15. März 2022Eine Frau, die um ihr Kind trauert, ein Bauer, der im Schweiße seines Angesichts einen Pflug übers Feld zieht, ein ärmlich gekleideter Taschendieb, der einen wohlsituierten Passanten bestiehlt: Käthe Kollwitz hat eindringliche Meisterwerke geschaffen, die noch heute berühren. Im ihr gewidmeten Museum in Köln kann man der Malerin und Bildhauerin jetzt über die Schulter schauen - in der Ausstellung "Kollwitz Kontext - Das Werk hinter den Meisterwerken".
Und schnell wird klar: Auch die weltberühmte Künstlerin hat mal klein angefangen. Man sieht zum Beispiel Skizzen, in denen sie sich in Augen-, Nasen- und Mundpartien übt. Mal zeichnet sie ihre Hand, dann einen Stuhl oder einen Regenschirm. Um spontan ihre schlafende Schwester Lise zu porträtieren, zerreißt sie einen Bogen Papier mit einem Aquarell, das sie gerade zur Hand hat. Was darauf wohl zu sehen gewesen wäre? Die Besucher können nur spekulieren.
Die Geschichten hinter den Werken
Anlass und Orientierungspunkt der Schau ist der im März erschienene Katalog "Käthe Kollwitz - Der Werküberblick 1888 - 1942", herausgegeben von Hannelore Fischer. "Es war mir wichtig, dass sich alle intensiv mit Kollwitz auseinandersetzen", sagt Fischer, die sich nach mehr als 30 Jahren als Leiterin des Käthe Kollwitz Museums in den Ruhestand begibt.
Der Name der Ausstellung ist Programm: Kunsthistorische Abhandlungen neben den Exponaten sucht man in "Das Werk hinter den Meisterwerken" vergebens. Stattdessen können die Besucherinnen und Besucher Anekdoten über die Entstehung der Arbeiten nachlesen. "Wir sind an die Schubladen gegangen", erklärt Kollwitz-Expertin Fischer: "Die Geschichten, die wir hier erzählen, bleiben nicht an der Oberfläche."
Ein Beispiel: Kollwitz zeichnete die "Liebesszene I" (1909/1910) auf die Innenseite eines doppelten Papierbogens. Im Laufe der Jahre übertrugen sich die Umrisse des Liebespaares durch das abgesonderte Fett in der schwarzen Farbe auf die andere Seite des Bogens. Der Zahn der Zeit hat also kunstvoll seine ganz eigene Geschichte erzählt und sich mit dieser auf der Innenseite des Papierbogens verewigt.
Wie man mit einem Handgriff aus für einen Perspektivenwechsel sorgen kann, zeigt ein weiteres Beispiel: Die Kohle-Lithographie eines sich umarmenden Liebespaars (1909/1910) war ursprünglich als Hochkant-Format zu sehen. Aufgrund der sich leicht abstützenden Handhaltung des weiblichen Körpers hängt die Liebesszene nun im Querformat an der Wand und ermöglicht eine andere Lesbarkeit des Werkes.
Kollwitz: Nie wieder Krieg
Käthe Kollwitz, geboren im Jahr 1867, verarbeitete viele Schicksalsschläge in ihren Werken. Sie erlebte beide Weltkriege, in denen sie ihren Sohn Peter und ihren Enkel verlor. Die Graphiken, Zeichnungen und Skulpturen der Künstlerin gehen unter die Haut. "Kollwitz kommt immer sehr nahe, es gibt auch Leute, die plötzlich anfangen zu weinen, wenn sie vor den Werken stehen. Ich kenne niemanden, der unberührt aus diesem Museum geht", erzählt Hannelore Fischer. Wie aktuell Kollwitz' Arbeiten seien, zeige ein frühes Werk von ihr: "Zurzeit wird oft das Plakat 'Nie wieder Krieg' angefragt." Die Kreide-und-Pinsellithographie, von Kollwitz als Plakat zum Mitteldeutschen Jugendtag in Leipzig von 02. bis 04. August 1924 erstellt, ist in der Schau ebenfalls zu sehen: im Entstehungsprozess als Vorlage noch ohne Schriftzug.
Kollwitz' Werke berühren
Sogar kleinen Geheimnissen von Kollwitz können die Besucherinnen und Besucher in der Ausstellung auf die Spur kommen: Auf den Blatträndern der gewohnten Passepartouts, die dem Betrachter normalerweise verborgen bleiben, sind - wie bei dem "Selbstbildnis en face" (1910) - Arbeitsspuren zu erkennen. Die kleinen Striche und Überbleibsel abgewischter Finger geben einen Einblick in Kollwitz Zeichentechnik.
Zu den Ausstellungsstücken gehören neben Skizzen und Vorzeichnungen auch Rückseiten bekannter Werke, auf denen sich jedoch nicht nur Käthe Kollwitz selbst verewigte: Auf der Rückseite eines Portraits ihres Sohnes Hans (1903) sind aquarellierte Pflanzenblätter zu sehen. Doch was man für Farbexperimente der Mutter halten könnte, stellt sich vermutlich als das Werk des zehnjährigen Hans Kollwitz heraus. Aufschluss darüber gibt die abgehackt geschnittene obere Blattkante - durch eine Schere von Kinderhand geführt.
Auch privatere Exponate wie Originalbriefe und Fotos zeigt die Schau. In einem Glaskasten liegen sogar Postkarten aus. Sie zeigen ein Selbstbildnis Käthe Kollwitz', dessen Gesicht bereits durch das Leben gezeichnet scheint. Die Künstlerin selbst verschickte diese einzigartigen Grüße 1937 als Dank an ihre Freunde und Bekannte kurz nach ihrem 70. Geburtstag.
Nicht nur bei dieser Werkauswahl lohnt es sich, bei Kollwitz genauer hinzuschauen: "Viele Leute entdecken erst beim zweiten Mal, wenn sie wieder kommen, die große Zeichnerin und die hohe Qualität ihrer Druckgraphik", so Museumsdirektorin Fischer. "Kollwitz Kontext" gewährt einen neuen Blick hinter die Meisterwerke. "Kollwitz ist nicht nur die dunkle Künstlerin, die diese düsteren Werke macht, auch wenn sie in Schwarz-Weiß sind", so Fischer. "Da ist auch viel Leben drin, viel Zärtlichkeit und viel Nähe."
Die Ausstellung "Kollwitz Kontext - Das Werk hinter den Meisterwerken" läuft bis zum 19. Juni 2022 im Käthe Kollwitz Museum Köln. Die Monographie "Käthe Kollwitz - Der Werküberblick 1888-1942" von Hannelore Fischer erschien im März 2022.