Junge Bosnier träumen von Deutschland
20. Juni 2016Goethe-Institut Sarajevo: Sozialistische Betonarchitektur, dritter Stock, der Aufzug funktioniert nicht, es ist warm im "Raum Berlin". Dina Rizvo führt ein strenges Regiment, der rote Lippenstift sitzt, das gebügelte Sommerkleidchen ebenfalls. Seit drei Jahren arbeitet die 26-Jährige als Deutschlehrerin. Selten war der Ansturm auf ihre Kurse so groß wie jetzt.
"Die Zahl der Kursteilnehmer steigt von Jahr zu Jahr. Die Leute, die in den Kurs kommen, sind sehr unterschiedlich". Das fange an mit Menschen, die ihrem Ehepartner nach Deutschland folgen, so Rizvo: "Die absolvieren dann hier die Basiskurse und bilden sich in Deutschland weiter. Es sind aber auch Leute mit Uni-Abschlüssen dabei, Juristen, die sich zu Krankenpflegern haben umschulen lassen und die bereit sind, in Deutschland im Pflegedienst zu arbeiten. "
Deutschland ist beliebt: Und das nicht nur, weil viele Menschen aus Bosnien während des Jugoslawienkrieges in die Bundesrepublik geflohen sind. Vor allem Berlin gilt als Anziehungspunkt für junge Bosnier. Die Faszination für Deutschland und Europa im Allgemeinen wäre allerdings wohl nicht so groß, wenn es nicht so schlecht um die Situation im eigenen Land bestimmt wäre. Karsten Dümmel leitet die Konrad-Adenauer-Stiftung in Sarajevo. Er stellt dem Bildungssystem in Bosnien ein katastrophales Zeugnis aus: "Leider gibt es beim Bildungssystem vom Kindergarten bis zur Universität sehr viel zu verbessern", sagt der engagierte Mittfünfziger ernüchtert. In Bosnien trauere man der Vergangenheit nach, man gebe sich der Wahrnehmung hin, dass früher das Bildungssystem in Jugoslawien vorbildlich gewesen sei: "Leider ist es mit Jugoslawien vorbei und es hat sich nicht viel verändert."
"Brain Drain" der Hochqualifizierten
Die politische Tatenlosigkeit hat Folgen: Bosnische Universitätsabschlüsse werden im Ausland häufig nicht anerkannt. Im Land selbst gibt es kaum Arbeit, die Jugendarbeitslosigkeit liegt seit Jahren bei rund 60 Prozent. Das führt dazu, dass sich selbst Hochqualifizierte umschulen lassen, um im Ausland eine Chance auf einen Job zu haben.
Lejla Ibisevic lernt seit zwei Monaten Deutsch - wie viele andere aus ihrer Generation. Die studierte Politologin kommt dreimal die Woche für fünf Stunden ins Goethe-Institut: "Ich möchte in Deutschland als Krankenschwester arbeiten, weil ich in Bosnien einfach keinen Job finde." Für die schüchterne 26‐Jährige ist die Situation schwierig: "Ich bin hier geboren, ich bin hier aufgewachsen, meine gesamte Familie, alle meine Freunde sind hier. In Deutschland habe ich doch niemanden", sagt sie leise.
Lejla Ibesivic ist Teil des Programms "Triple Win" der "Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit". Mit diesem Programm versucht die Bundesregierung, den Pflegenotstand in Deutschland zu beheben. Solche Programme sind gut für Deutschland - nicht aber für Bosnien: Die Weltbank schätzt, dass im Zuge des allgemeinen "Brain Drains" der vergangenen Jahre fast 10.000 Hochqualifizierte jährlich das Land verlassen haben. Für ein Land mit nur vier Millionen Einwohnern ist das eine katastrophal hohe Zahl.
EU‐Beitritt: Licht am Ende des ewigen Tunnels
Olaf Deussen arbeitet für das EU‐Verbindungsbüro in Sarajevo. Als Treffpunkt wählt er ein ausgefallenes Cafe in der Altstadt. Umgeben von schweren Kronleuchtern und goldbesetzten Zuckerdosen erzählt der jugendlich wirkende EU‐Mitarbeiter vom positiven Image, das die EU in Bosnien habe.
"Gerade der wirtschaftliche Bereich brennt den Leuten unter den Nägeln. Die Arbeitslosigkeit im Land ist extrem hoch, das heißt, dass die Leute erst einmal Jobs haben wollen", sagt er. "Wenn man sich anschaut, was die EU in den letzten Jahren gerade in Südosteuropa geleistet hat, kann das auch ein Vorbild für Bosnien sein".
Er klingt hoffnungsvoll, und auch Karsten Dümmel pflichtet ihm bei. Im Vergleich zum fortschreitenden EU‐Beitritt des Nachbarlands Serbien warnt er allerdings auch vor zu großer Euphorie: "Der EU‐Beitritt ist ein Licht am Ende des Tunnels. Allerdings ist dieser Tunnel sehr lang, der Weg in die EU sehr weit. Sie können meinetwegen den Brenner zu Fuß durchschreiten, wenn Sie ein Beispiel für diese Schwierigkeiten haben möchten. "
In der Altstadt von Sarajevo hat Dina Rizvo viel Verständnis für ihre Schüler. Auch sie denke manchmal darüber nach, das Land zu verlassen: Ihr Lehrergehalt reiche gerade so aus, um über die Runden zu kommen. "Wenn die Leute hier schon fünf Jahre arbeitslos sind, dann würde ich das Gleiche tun. Um eine bessere Zukunft zu haben, würde ich auch nach Deutschland auswandern", sagt die junge Lehrerin. Sie zuckt mit den Schultern: "Falls ich hier keinen Job finde, gibt es doch keinen Grund, warum ich hier bleiben sollte."
Ihre Schüler nicken zustimmend, kichern ein wenig wegen des deutschen Journalisten im Raum und beugen sich dann gleich wieder über die Grammatikbücher. Nicht nur wegen Rizvos strengem Blick lassen sie keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie es ernst meinen mit dem Deutschlernen. Trotz Freitagnachmittag, trotz Sommerhitze und Sozialismusbeton.