Juden in Deutschland: Alte neue Sorgen vor Antisemitismus
5. Oktober 2024Die Synagoge seiner jüdischen Gemeinde in der Brunnenstraße in Berlin-Mitte wurde im Oktober 2023, wenige Tage nach dem Terror der Hamas, Ziel eines versuchten Brandanschlags. Rund um die Uhr stehen Polizeibeamte vor dem Gebäudekomplex. Auf die Frage der Deutschen Welle, ob er persönlich Antisemitismus erlebt habe, verweist Rabbiner Dovid Roberts zunächst auf diesen Schutz. Dann berichtet er, dass er beim Gang von seiner Wohnung zur Synagoge inzwischen mehr auf seinen Weg achte und einzelne Straßen eher meide.
Und einmal, schon nach dem 7. Oktober, habe ihn am Nacken ein kleiner Stein getroffen. "Ich bin erschreckt zusammengezuckt, aber als ich mich umdrehte, habe ich niemanden mehr gesehen."
Dovid Roberts ist dankbar für den Schutz der Synagoge und für die Unterstützung durch die zuständigen Behörden. Das Viertel rund um den Komplex der Gemeinde sei "wunderbar" und sehr lebendig. Aber es sei für manchen Juden eben auch furchteinflößend. Und, ja, "viele in der Gemeinde haben große Angst".
Jüdisches Leben ist in Deutschland nach dem Terror der Hamas gegen Israel ein Leben in Sorge. Nicht wenige Jüdinnen und Juden schildern, dass sie auf der Straße lieber eine Basecap als eine Kippa tragen und weitere Zeichen vermeiden, die das Jüdischsein erkennbar machen. Auch Mitglieder von Roberts' Gemeinde "Kahal Adass Jisroel" in der Berliner Brunnenstraße schildern ihre Erfahrungen. Als sie an einem Spätsommer-Sonntag mit einer neuen Torarolle durch Berlins Mitte zogen, wirkte das Ganze wie eine Veranstaltung in einer Hochsicherheitszone.
Viele antisemitische Vorfälle
Mit dem 7. Oktober 2023 schnellte die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Deutschland nach Angaben der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) in die Höhe. 2022 waren es demnach im Durchschnitt sieben pro Tag. Seit dem 7. Oktober des vergangenen Jahres 32 pro Tag. Dazu zählen Graffiti an Häusern oder Wohnungen, judenfeindliche Parolen bei Demonstrationen, offene Anfeindungen auf der Straße, aber auch Brandanschläge und Körperverletzungen. Nach jüngsten Angaben von RIAS bleibt die Zahl hoch.
Bei einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Berlin schilderten jüdische Studierende aus mehreren deutschen Universitätsstädten ihre Eindrücke aus Hochschulen: Sie erlebten offene Agitation gegen Juden und Israel und nicht selten mangelnde Rückendeckung der Hochschulleitung für jüdische Studierende.
Der Druck – das zu betonen war ihnen wichtig – komme meist von deutschen oder westlichen Studierenden, nicht von Palästinensern. Und zum Ende des Gesprächs bei der KAS baten die Beteiligten darum, nicht mit Namen genannt oder fotografiert zu werden. Auch das gehört zu den Folgen dieses Jahres.
Dabei ist die Stimmungslage innerhalb der jüdischen Community alles andere als geschlossen. Nicht wenige Jüdinnen und Juden stehen kritisch zur israelischen Regierung von Benjamin Netanjahu, zu dessen Kabinett auch rechtsextreme Minister gehören. Jüdische Vertreter beteiligen sich an kritischen Debatten und hoffen auf Neuwahlen in Israel. Kulturschaffende nutzen gelegentlich ihre Bühne, um die israelische Politik zu kritisieren.
Ob Rabbiner oder die Studierenden – sie wissen und berichten, wie Israelkritik und Antisemitismus zueinander finden können. So verweist Rabbiner Roberts auf Veränderungen in der Grundstimmung. Da gebe es Judenhass in muslimischen Milieus, in der rechten Partei AfD und in sehr linken Kreisen.
Ist das typisch Berlin? Ein Metropolen-Phänomen? Fast überall in Deutschland stehen jüdische Einrichtungen unter Polizeischutz. Ein Blick nach Magdeburg. In der Stadt eröffnete im Dezember 2023, rund 85 Jahre nach der Zerstörung des Vorgängerbaus durch die Nationalsozialisten, eine neue Synagoge, eine von drei neuen Synagogen in Deutschland seit dem 7. Oktober 2023. Die Gemeinde hatte das Vorhaben bereits 1999 beschlossen und lange darauf hingearbeitet.
Anders als in Berlin oder Köln fallen dem Besucher im Magdeburger Straßenbild keine israelfeindlichen Graffiti oder keine roten Dreiecke auf, die als Zeichen für die Hamas gedeutet werden. Ja, sagt Maria Schubert, es habe bislang keine Übergriffe gegen die Synagoge oder Schmierereien gegeben. Aber seit der Eröffnung der Synagoge steht auf der anderen Straßenseite ein Container als "mobile Polizeiwache". Meist parken ein, zwei Polizeifahrzeuge daneben.
Die 46-jährige Schubert, selbst Jüdin, ist Assistentin des Gemeindevorstands und führt Besucher durch den neuen Bau. Sie merke "zunehmend, dass sich die Gespräche im Freundeskreis ändern oder verstummen", sagt sie der DW. "Leute, die stets israelfreundlich waren, werden immer kritischer." Und es fehle die bewusste Unterscheidung zwischen dem Judentum in Deutschland und dem Staat Israel. Die Bilder von judenfeindlichen oder israelfeindlichen Demonstrationen erschreckten sie, sagt Schubert. Es sei "befremdlich, wenn sich Menschen, ob muslimische Zuwanderer oder Deutsche, radikalisieren, die noch nie in Israel waren und gar nicht die Herausforderungen dort kennen".
Die Sorgen der Alten
Spektakuläre Fälle von Judenhass schaffen es in die Medien und erregen öffentlich Aufmerksamkeit. Aber es gibt Aspekte, die in keinem Polizeibericht auftauchen. Der Leiter des Sozialreferats der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), Ilya Daboosh, schilderte in den jüngsten Informationen des Verbands konkrete Folgen für ältere Jüdinnen und Juden, die aus der früheren Sowjetunion nach Deutschland kamen.
Der 7. Oktober und die Zeit danach habe bei ihnen "viele Assoziationen und Erinnerungen geweckt: das eigene Erleben als Juden in der Sowjetunion, geprägt von Pogromen, systemischer Diskriminierung und sowjetischer, antizionistischer Propaganda". Schon seit der Corona-Zeit, dann seit dem Terror der Hamas gebe es eine "Aufeinanderfolge von Sorge, Anspannung, Isolation und Hilflosigkeit".
ZWST-Präsident ist Abraham Lehrer, der auch dem Präsidium des Zentralrats der Juden angehört. Der Verband, sagt er der DW, sei seit dem 7. Oktober vielfältig neu herausgefordert. So habe man rasch nach dem Terror eine hebräischsprachige Telefon-Hotline für Israelis in Deutschland aufgebaut: Hier können Menschen anrufen, die Angehörige nicht erreichen, die von verschleppten Geiseln erfahren wollen oder die einfach verzweifelt ein Gespräch suchen. Parallel, so Lehrer, habe der Verband seine Fachberatung zum Umgang mit antisemitischen Vorfällen in Bildungseinrichtungen (OFEK) erweitert.
Und er sorgte seit Ende 2023 für so genannte "Safe Spaces" – Rückzugsräume für den Austausch mit gleichartig Betroffenen. Der 70-Jährige, der der jüdischen Gemeinde in Köln angehört, erzählt, er sei persönlich seit langem im Kampf gegen Antisemitismus engagiert. "Aber die Explosion an Judenhass nach dem 7. Oktober hat uns schon schockiert", betont er. "Ich dachte, wir hätten Antisemitismus mehr eingedämmt." Bei mancher Schilderung, die ihn erreiche, werde ihm "regelrecht schlecht".