"Marx hätte die Popularität genossen"
4. Mai 2018DW: Frau Bouvier, zu seinem 200. Geburtstag sind Karl Marx und auch seine politischen Theorien wieder in aller Munde. Was macht den Mythos Marx aus?
Es wird heute immer wieder die Frage gestellt, ob Karl Marx nicht doch Recht hatte. Spätestens seit der Finanzkrise 2008 wird Marx wieder als Prognostiker oder gar Prophet gehandelt.
Waren seine Theorien denn tatsächlich prophetisch?
Die heute oft zitierte Krisentheorie hat er gar nicht weiter entwickelt. Im "Kommunistischen Manifest" beschrieb Marx, was er in seiner Zeit beobachtet hat und wir auch heute wieder beobachten, nämlich die negativen Folgen des Kapitalismus und die Dynamik der Globalisierung. Das Bild vom Propheten wollen wir in den Ausstellungen ein wenig zurecht rücken.
"Leben.Werk.Zeit" setzt sich aus zwei Ausstellungen zusammen. Was erwartet die Besucher und was wollen Sie zurecht rücken?
Eine Ausstellung widmet sich vorwiegend den Stationen seines europäischen Lebensweges, der zum großen Teil im Ausland stattfand. Dabei wird deutlich, dass Marx das Schicksal anderer Oppositioneller im 19. Jahrhundert geteilt hat.
Im Teil "Werk und Zeit" wird anschaulich, wie umbruchhaft diese Zeit war, in der Marx lebte, und auf welche Probleme er persönlich traf und welche zeittypisch waren. Wir fragen: Was trieb ihn an? Und wie kam es dazu, dass Marx und sein Gedankengebäude im 20. Jahrhundert so dogmatisiert wurden?
Die Hinterlassenschaft von Marx ist ambivalent. Er wird zur legitimen Kritik sozialer Ungerechtigkeiten herangezogen, andererseits dienten seine marxistischen Theorien zur Rechtfertigung des Handelns von Diktatoren wie Stalin und Mao. Wo stand Marx selbst in diesem Spannungsfeld?
Man kann Marx sicher nicht in Haftung dafür nehmen, was Stalin verursacht hat. Dennoch muss man fragen, wo die Anknüpfungspunkte liegen. Das sind sicher die Diktatur des Proletariats und die Frage der Gewalt in Revolutionen. Man muss in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass es in Marx' Gedankengebäuden auch Leerstellen gab.
Die dann durch opportune Interpretation von Despoten gefüllt wurden?
Ja, in mehrfacher Weise, angefangen mit Lenin und dann geformt und deformiert durch Stalin und andere. Das führte auch dazu, dass die Theorien zu Dogmen wurden, was sie bei Marx noch nicht waren.
War Marx denn einsichtig und bereit sich zu korrigieren?
Er war durchaus zu Erkenntnissen fähig und hat die Entwicklungen gesehen, die sich gerade im späten 19. Jahrhundert vollzogen. Und er hat in allen möglichen Ländern beobachtet, wie die Entwicklungen aussehen könnten und hat sich dadurch auch permanent revidiert, ohne zu einem Ende zu kommen.
Beispielsweise hat er gesehen, dass sich die Entwicklung des Kapitalismus nicht mehr an England festmachen ließ, sondern längst in die Vereinigten Staaten überging, wo er sich dynamischer vollzog, als auf dem europäischen Kontinent.
Wie stand Marx zum Einsatz von Gewalt als Mittel, die Ziele zu erreichen, wenn reformistische Bemühungen scheiterten?
Die Frage der Gewalt spielt sicher eine Rolle. Aber gerade in späteren Jahren hat Marx formuliert, dass der Einsatz von Gewalt immer auch davon abhängt, wie weit sie von der Gegenseite, also denen, die Macht innehatten, ausgeübt wurde. Es geht bei ihm nie darum, selbst mit Gewalt etwas zu beginnen und durchzusetzen. Dass Gewalt eine Rolle spielen kann, wurde aber nie geleugnet.
Die Idee des Kommunismus als Gleichheit aller ist historisch stets zum eigenen Machterhalt und zur Unterdrückung von Menschen missbraucht worden. Das war nicht im Sinne des Erfinders, oder?
Nein, sicher nicht. Marx steht nicht für Unterdrückung und auch nicht für Dogmatisierung, darauf muss man immer wieder hinweisen. Ein anderer Blick auf Marx könnte helfen zu verstehen, dass Dinge deformiert worden sind.
Marx ist bereits seit 135 Jahren tot, heute aber nicht nur politisch gefragt, sondern ein Popstar der Moderne, dem mit Street Art gehuldigt wird. Wie hat er diesen Status erlangt?
Durch die Befreiung von Dogmen ist inzwischen ein freierer Umgang möglich, der vielfältige Formen der Annäherung zu einer sehr eingeengten Persönlichkeit ermöglicht, auch in ästhetischen und kulturellen Zugängen. Marx ist tendenziell entideologisiert worden, was aber nie mit einer Entpolitisierung einher ging. Selbst mit der Darstellung als Popikone ist immer auch eine kleine politische Provokation verbunden.
Marx' Geburtsort Trier weiß den berühmten Sohn der Stadt raumgreifend zu vermarkten, etwa als Ampelmännchen. Was halten Sie davon?
Ich finde es amüsant und denke, es ist eine legitime Möglichkeit, mit Marx umzugehen. Der frühere Oberbürgermeister von Trier, Klaus Jensen, hat mal gesagt: "Marx ist Kapital für Trier."
Und was würde der Kapitalismus-Kritiker Marx umgekehrt sagen, wenn er sehen würde, dass es ihn im Tourismus-Shop als Quietsche-Entchen zu kaufen gibt?
Da wäre er sicher not amused. Aber ich denke, ein klein wenig hätte er die Popularität auch genossen.
Das Gespräch führte Torsten Landsberg.
Die Historikerin Beatrix Bouvier leitete von 2003 bis 2009 das Museums und die Forschungsstelle Karl-Marx-Haus in Trier, sie ist im Vorstand der Internationalen Marx-Engels-Stiftung und im Wissenschaftlichen Beirat der Ausstellungsgesellschaft Karl Marx 2018.