Jubel und Anfeindungen für Erdogan
17. Juli 2016Eine Mischung aus Feierlaune und gespenstischer Ruhe erfüllt die türkische Hauptstadt, je nachdem, in welchem Stadtteil man unterwegs ist. Die Anhänger der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) von Präsident Recep Tayyip Erdogan versammeln sich und jubeln, schwenken Fahnen, fahren hupend und singend durch die Straßen der Innenstadt.
In den überwiegend von Oppositionsanhängern bewohnten Vierteln bleiben dagegen die Restaurants und Bars entweder geschlossen oder nahezu leer.
"Es war wie Krieg", sagt Axni, eine 31-jährige kurdische Journalistin. Sie wohnt nahe dem Parlamentsgebäude, das während des Putschversuchs bombardiert worden war. "Ich habe Militäraktionen in Diyarbakir erlebt - Freitagnacht hat mich sehr daran erinnert."
Axni, die ihren richtigen Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen will, erzählt von Schüssen und mindestens acht großen Explosionen im Parlament. "Es war alles so unübersichtlich und als die Angriffe begannen, schien alles möglich", sagt sie. "Ich bin in meiner Wohnung geblieben und habe Nachrichten geschaut. Ich wollte wissen, was vor sich ging. Ich wusste nicht, ob ich mir um mich und um meine Familie Sorgen machen sollte."
Nach einer schlaflosen Nacht ging Axni wie viele andere Bewohner Ankaras auf die Straße, um sich die Überbleibsel der nächtlichen Kämpfe zwischen den Putschisten und der Erdogan-treuen Polizei anzusehen.
Mindestens 265 Tote wurden landesweit gezählt, hinzu kommen mehr als 1100 Verletzte, als Zehntausende Anhänger des Präsidenten auf die Straßen strömten, um die Militärfahrzeuge der Putschisten zu blockieren und Soldaten anzugreifen, manchmal sogar zu lynchen.
Am Ende war diese Strategie erfolgreich und erlaubt es Erdogan, zunächst im Amt zu bleiben. Entsprechend laut war der Jubel im Distrikt Kisilay, wo AKP-Anhänger ihren Triumph feierten.
"Größter Herrscher seit Suleiman"
"Ich habe nie befürchtet, dass sie ihn verhaften oder gar erschießen würden", sagt Naci Demir. Der 72-Jährige hat das Scheitern des Putschversuchs gefeiert. "Erdogan ist zu stark, als dass er auf diese Weise fallen könnte - das Militär hätte das wissen müssen."
Demir unterstützt Erdogan, weil dieser die Grundwerte der türkischen Gesellschaft verteidige und weil er "der größte Führer ist, den wir seit Suleiman dem Großen haben". Der legendäre Herrscher hatte das Osmanische Reich im 16. Jahrhundert zu seiner größten Blütezeit geführt.
Überhaupt wird hier in Ankara immer wieder an die ruhmreiche osmanische Vergangenheit erinnert: Tausende Demonstranten schwenken nicht nur die rote Flagge mit dem türkischen Halbmond, sondern auch grüne mit drei Halbmonden, die Flagge des Osmanischen Kalifats.
Für viele Demonstranten hat Erdogan den Stolz wiederbelebt, den die Türken nach dem Fall des Osmanischen Reiches verloren hatten. In ihren Augen hat er sich dem Westen entgegengestellt und sich mehr wie ein Kaiser gegeben, nicht wie der Diener einer Kolonialmacht.
"Wir werden Erdogan nicht im Stich lassen", sagt der 17-jährige Demirel aus Ankara. Auch er war in der Putschnacht unterwegs, um "sein Land zu unterstützen", wie er sagt. "Erdogan ist der beste Mann für die Türkei. Wenn wir ihm folgen, wird unser Land wieder erfolgreich sein. Für mich ist er der beste Anführer der Welt."
Doch in den wohlhabenderen Vierteln wie Tunali im Bezirk Cankaya, sind die Anwohner komplett anderer Meinung. Sie sagen, Erdogans autoritäres Verhalten, seine Einstellung zu religiösen Angelegenheiten und seine Versuche, immer mehr Macht zu erlangen, beunruhigten sie. Zwar hat niemand den Militärputsch explizit unterstützt, doch einige sehen positive Auswirkungen auf die derzeitige Krise. "Erdogans Anhänger sind blind", sagt Izzet Can Asarkaya, ein 24-jähriger Student. "Sie leiden am Stockholm-Syndrom: Sie verlieben sich in ihren Mörder."
"Immer autoritärer"
Die 33-jährige Burcu sagt, der Staat werde nach dem Putschversuch noch autoritärer werden als vorher. Dann fegt sie in ihrer Wohnung die Reste der Fensterscheiben zusammen, die durch mehrere Explosionen in der Freitagnacht zersplittert waren.
Noch hat sich der Staub nach den jüngsten Ereignissen in der Türkei nicht gelegt. In Ankara kursieren Gerüchte, dass es einen zweiten Putschversuch geben könnte. Axni verbringt die Nacht sicherheitshalber bei einer Freundin, die weiter vom Parlamentsgebäude entfernt wohnt. "Es war schwer vorherzusagen, was passieren würde", sagt sie. "Wir wussten ja nicht, ob die Putschisten gut organisiert waren und Erfolg haben würden - aber es war genauso schwer, die Reaktion von Erdogans Anhängern vorherzusagen. Alles war total undeutlich."
Und jetzt? Ist die Lage jetzt klarer? Axni lacht. "Nein, natürlich nicht. Aber nach allem, was passiert ist, ist zumindest klar, wohin der Weg führt. Dieses Land wird faschistischer, gefährlicher und hilfloser werden. Leider."