Jobwunder und Suppenküche
30. Dezember 2014Erfinderstolz klingt anders: "Als Vorsitzender der Kommission musste ich mit meinem Namen herhalten", sagt lakonisch Peter Hartz in einem der zahlreichen Interviews, die dieser Tage mit ihm geführt werden. Der mittlerweile 73jährige war Vorsitzender jener Kommission, die Anfang des Jahrtausends einen radikalen Sozialumbau in Deutschland entwarf. Die sogenannten Hartz-Gesetze, die daraufhin von der rot-grünen Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder beschlossenen wurden, haben das Land verändert und spalten es bis heute.
"Bei allen schmerzlichen Eingriffen" könne man im Rückblick sagen, dass "diese Politik erfolgreich war", bilanziert Peter Hartz vorsichtig in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Sie habe dazu beigetragen, dass die Arbeitslosigkeit deutlich gesunken ist und "wir die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Europa haben".
Tatsächlich gelten Schröders Agenda 2010, seine Arbeitsmarktreformen und die Hartz-Gesetze international als wichtiger Grund für das "deutsche Jobwunder". Die Kehrseite der Medaille, der Frust über die Gesetze, spielte und spielt eher auf nationaler Bühne. Er hat zeitweilig zu Straßenprotesten geführt, beschäftigt eine Heerschar von Anwälten und wird auch von PEGIDA-Demonstranten in Dresden artikuliert. Die oppositionelle Linkspartei hat die Abschaffung von "Hartz IV" zu einem ihrer wichtigsten politischen Ziele erklärt, Wohlfahrtsverbände protestieren in Permanenz und Schröders eigene Partei, die SPD, versucht ihren Prestigeverlust unter dem eigenen Klientel wettzumachen, traditionell Arbeiter und kleine Leute.
Abstieg ans untere Ende der Gesellschaft
Die Hartz-Gesetze sind mehrmals überarbeitet worden, die sozialfeindliche Grundsubstanz allerdings sei erhalten geblieben, meint der Kölner Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge, einer der schärfsten Kritiker. Er ist wegen der Hartz-Gesetze aus der SPD ausgetreten und brandmarkt den "Übergang vom Sozialversicherungs- zum Suppenküchenstaat".
Besonders "Hartz IV", das vierte einer Reihe von Gesetzen, ist für viele Betroffene ein rotes Tuch. Es bestimmt, dass alle Erwerbsfähigen, die lange Zeit arbeitslos sind, nur noch eine einheitliche staatliche Zuwendung von derzeit 391 Euro bekommen, ihre Kinder erhalten - je nach Alter - weniger. Zusätzlich zahlt der Staat Miete und Heizkosten. Rund sechs Millionen Männer, Frauen und Kinder sind derzeit darauf angewiesen. Die ausgerechnet vom sozialdemokratischen Kanzler Gerhard Schröder 2003 in Auftrag gegebenen Gesetze bedeuten für viele Langzeitarbeitslose den sozialen Abstieg ans untere Ende der Gesellschaft. Ein Facharbeiter, der vor Schröders Reform eine auskömmliche, an seinem letzten Lohn orientierte, staatliche Arbeitslosenhilfe bekam, ist heute ebenso Fürsorgeempfänger wie derjenige, der noch niemals gearbeitet hat. Mit den Hartz-IV-Gesetzen wurden Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt.
"Elemente des Strafrechts"
Schlimmer noch, "Hartz IV"-Empfänger gelten vielen als arbeitsunwillig. Das Verb "hartzen" hat es in den Duden geschafft. Als übertragene Bedeutung steht da: "Konnte mich zu keiner Arbeit überwinden". Das ist Ausdruck einer öffentlichen Stigmatisierung, an der auch Kanzler Schröder seinen Anteil hat. Mit der Formulierung, in Deutschland gebe es "kein Recht auf Faulheit" suggerierte er, dass es sich die vielen Langzeitarbeitslosen im Deutschland um die Jahrtausendwende in der sozialen Hängematte zu bequem gemacht hätten. Schröder gab das Motto "Fordern und Fördern" aus: Umschulung, Weiterbildung, Hilfen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt und notfalls Sanktionen. Wer sich weigert, kann seitdem mit der Kürzung seiner Bezüge bestraft werden, die ohnehin schon das Existenzminimum darstellen. Keine leere Drohung: Im Jahr 2013 wurden immerhin über eine Million Strafen verhängt, die durchschnittliche Leistungskürzung betrug mehr als 100 Euro. Damit hätten "Elemente des Strafrechts ins Sozialrecht Einzug gehalten", kritisiert der Leitartikler der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl.
Beschäftigungsquote auf Rekordniveau
Der Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, sieht dagegen die Erfolge: 2005 betrug die Arbeitslosenzahl zeitweise 5,3 Millionen, nun sei man unter drei Millionen: "Das ist schon beachtlich". Auch die Beschäftigungsquote erreichte 2014 ein Rekordniveau. Sozialwissenschaftler Butterwegge sieht das trotzdem kritisch: "Selbst wenn die Arbeitslosigkeit zum Teil durch "Hartz IV" gesunken wäre, war der Preis, den unser Land und speziell die sozial Benachteiligten dafür zahlen mussten, viel zu hoch", erklärter in der linken Tageszeitung "Neues Deutschland". Auch die Gewerkschaften verweisen darauf, dass eine Nebenwirkung von "Hartz IV" ein boomender Niedriglohnsektor sei. "Hartz IV" habe die Bereitschaft von Arbeitslosen erhöht, schlechter entlohnte und ungünstigere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, bilanziert der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Das Lohn-Niveau in Deutschland insgesamt ging zurück.
Viele Arbeitslose nehmen heute so niedrig bezahlte Jobs an, dass der Lohn nicht zum Leben reicht. Der Staat stockt deshalb ihre Bezüge bis zum Existenzminimum auf, so dass sie wenigstens soviel verdienen wie jemand, der "Hartz IV" bezieht. Das ist ein riesiges staatliches Subventionsprogramm für den Niedriglohnsektor. Erst der ab 2015 stufenweise geltende Mindestlohn soll diese absurde Nebenwirkung allmählich beseitigen.
Ein Sargnagel für Schröders Kanzlerschaft
Doch nicht nur den Arbeitsmarkt haben Schröders Reformen umgekrempelt, sondern auch die politische Landschaft hat sich verändert. Die SPD ramponierte als Urheber von "Hartz IV" ihren Ruf als Partei der kleinen Leute, verlor Mitglieder und Landtagswahlen. Ihr frustrierter Ex-Parteivorsitzender Oskar Lafontaine hob gemeinsam mit Gregor Gysi die Linkspartei aus der Taufe, die den Sozialdemokraten die Vorreiterrolle im Kampf um soziale Gerechtigkeit streitig macht. In Ostdeutschland, wo der Prozentsatz von Langzeitarbeitslosen besonders hoch ist, hat sie das geschafft. Schließlich war der Streit um "Hartz IV" in der SPD im Jahr 2005 ein Sargnagel für Schröders Kanzlerschaft. Er konnte sich nicht mehr auf die Stimmen des linken Flügels seiner Partei verlassen, trat mit Neuwahlen die Flucht nach vorn an und verlor.
Wenn die christdemokratische Kanzlerin Angela Merkel regelmäßig die Verdienste ihres Vorgängers Gerhard Schröder um die Arbeitsmarktreformen erwähnt, dann ist dieses Lob vielleicht aufrichtig gemeint: Aber es rührt an einer sozialdemokratischen Wunde.