Jethro Tull-Leader Ian Anderson wird 75
9. August 2022In einer ordentlichen Plattensammlung klassischer Rockmusik darf dieses Album nicht fehlen: "Aqualung" von Jethro Tull. Auf dem Cover ist ein Clochard im Schlabbermantel und zotteligen Haaren zu sehen. Und auf der Scheibe sind zwei Songs, die zu den Rock-Klassikern der 1970er-Jahre zählen: Der Titelsong und "Locomotive Breath" - mit Gitarrenriffs, die ebenso berühmt sind wie die von Deep Purples "Smoke on the Water" oder "Satisfaction" von den Rolling Stones. Das Album erschien im März 1971, vor mehr als einem halben Jahrhundert, und katapultierte die Progressive-Rockband Jethro Tull in den Rock-Olymp.
Kopf der Band war und ist bis heute Ian Anderson, der am 10. August 2022 seinen 75. Geburtstag feiert. Jethro Tull hatte zahlreiche wechselnde Besetzungen, doch Anderson, der von Anfang an (1967) dabei war, trägt die Musik bis heute weiter auf die Bühnen.
Von Rock bis Barock
Und die hat nicht nur verschiedene Entwicklungen durchlebt, wie Blues-Rock, Progressive Rock, Folk-Rock, Electronic Rock und Hard Rock. Jethro Tull spielte eine einzigartige Melange aus Rock, Folk und barocker, fast höfischer Musik. Die Einflüsse aus Klassik, Jazz und Weltmusik durchziehen die Musik von Jethro Tull wie ein roter Faden. So war schon auf dem zweiten Album, das die Band 1969 veröffentlichte, der Track "Bourée" zu hören. Die Adaption einer Sonate von Johann Sebastian Bach wird nach wenigen Takten zu einem Jazzrockstück, angetrieben durch das virtuose Flötenspiel Ian Andersons, mal glasklar, mal rockig, impulsiv.
Inspiration für weitere Bands
Damit hat Anderson gezeigt, dass die Querflöte in der Rockmusik richtig gut funktioniert. Andere Bands ließen sich dadurch inspirieren: Eher lyrisch klang sie bei Genesis ("Fifth Of Fifth") und Moody Blues ("Nights In White Satin") sowie bei den Eurythmics in "Never Gonna Cry Again" - Annie Lennox hat Querflöte studiert. Selbst im Metal findet die Querflöte ihren Platz wie etwa bei Nightwishs "Fantasmic".
Rockig und im Anderson-Stil erklingt sie bei Golden Earring in "Back Home", in "Ruckzuck" von Kraftwerk oder bei der niederländischen Progressive Rockband Focus in Stücken wie "House Of The King" und dem durchgeknallten "Hocus Pocus".
Der Flötensound von Ian Anderson hat den Charakter von Jethro Tulls Musik bis heute geprägt: Er bläst scharf an, er rollt mit der Zunge, er summt, singt, grunzt und schreit in die Flöte hinein. Früher sprang er dabei wie ein wild gewordener Catweazle mit zotteliger Mähne, wehendem Bart und irrem Blick über die Bühne. Sein Markenzeichen: Er steht beim Flötensolo auf einem Bein - und das ist er bis heute nicht mehr losgeworden. Genau so wenig möchten seine Fans bei seinen Konzerten auf seine bekanntesten Lieder verzichten - und so spielt er gnadenlos bei jedem Konzert die alten Jethro-Tull-Hits.
Musikalische Zeitreisen
Genau diese musikalischen Zeitreisen sind es, die die Fans zu seinen Konzerten ziehen und die ihn immer wieder antreiben. Getreu dem alten Jethro-Tull-Song "Living In The Past" von 1969 schwelgen Anderson und sein Publikum in alten Zeiten, als die Haare lang, die Drogen psychedelisch und die Träume groß waren. Heute ist Anderson so alt wie es seine musikalischen Idole einst waren. Jazzmusiker wie der Flötist Roland Kirk haben ihm imponiert - und mit 20 Jahren beschloss er, Musiker zu werden. Die Querflöte hat er sich in kurzer Zeit selber beigebracht - neben Gitarre, Mandoline, Saxophon, Bouzouki, Keyboards und weiteren Instrumenten.
Gerne schlüpfte er auch in Kostüme und trat als Narr, Gaukler oder mittelalterlicher Junker auf. Dies alles hat in den Jahren nachgelassen. Neben seiner Arbeit mit Jethro Tull widmete er sich anderen musikalischen Projekten - vor allem der Klassik. So ging er 2004 und 2005 mit einer extra dafür zusammengestellten Band und dem Orchester der Neuen Philharmonie Frankfurt auf Tour, spielte dort Tull-Songs und Lieder aus seinem Soloprogramm. 2006 trat er zusammen mit der Jazzsängerin Dee Dee Bridgewater auf und präsentierte Mozart in neuem Stil.
Nach 19 Jahren wieder eine neue Tull-Platte
Jethro Tull existierte zwar noch, war aber eher eine Truppe verschiedener Musiker, die Anderson für verschiedene Musikprojekte, seine Soloprogramme und Studiosessions um sich scharte. 19 Jahre sollte es dauern, bis nach einer Weihnachtsplatte wieder ein Album erschien, auf der der Name Jethro Tull stand. Es kam im Januar 2022 raus und trägt den Titel "The Zealot Gene". Für Anderson war dies auch ein Dankeschön an die Musiker, die ihn seit Jahren begleitet haben, aber nie unter dem Namen Jethro Tull auf einem Tonträger verewigt waren. Das Album verarbeitet vor allem biblische Themen und bleibt musikalisch in der gewohnten Jethro Tull-Komfortzone zwischen Folk und Progressive Rock. Damit geht Ian Anderson allerdings nicht in den Ruhestand - er arbeitet längst am nächsten Album. Außerdem - das sagte er dem TV-Sender "n-tv" - denke er nicht an die Rente; sondern werde wie ein Cowboy in seinen Stiefeln sterben.
Heute lebt Anderson zurückgezogen auf einem Landgut irgendwo in England. Er setzt sich für den Tierschutz ein, hat eine Vorliebe für alte Kameras, insbesondere Leicas, und liebt die indische Küche. Seinen Geburtstag - das hat er der Nachrichtenagentur "Spot on news" verraten - wolle er unter dem Bett verbringen, er sei kein geselliger Typ. "Eine ruhige Zeit mit meinen Katzen und ein Curry zum Mitnehmen reichen mir völlig aus".