Jens Voigt verabschiedet sich mit Weltrekord
18. September 2014Ein letztes Durchschnaufen, den Blick geradeaus gerichtet, seine Mimik angespannt, aber entschlossen. Es sind nur noch wenige Sekunden bis zum Start und Jens Voigt wirkt bereit. Bereit für die letzte Stunde seiner Karriere, für die vielleicht längste Stunde im Sattel. Ein paar letzte aufmunternde Worte von seinem Schweizer Coach Daniel Gisiger, Jens Voigt nickt ihm zu, er hat verstanden, ist im Rennmodus. Dann tickt die Uhr runter und der Schuss aus der Startpistole ertönt, es geht los. Jens Voigt wuchtet seinen großen Gang aus der Startvorrichtung und nimmt rasch Fahrt auf. Es ist die Fahrt zu seinem vielleicht größten Erfolg.
Jens Voigt startet schnell, auch wenn er sich vor dem Rennen eigentlich in der Anfangsphase Zurückhaltung auferlegt hatte. Wer bei einer Stunde Belastung im Grenzbereich zu schnell beginnt, bildet zu viel Laktat und das rächt sich später. "Ich musste mich zwischendurch etwas bremsen", wird Voigt später im Interview sagen. Der inzwischen 43-Jährige reduziert den Druck auf das Pedal etwas und fährt ein konstantes, hohes Tempo. Geschwindigkeit, Herzfrequenz, Trittfrequenz – alle Daten werden über einen Sender an seinen Betreuerstab übertragen, der diese immer wieder mit der Marschtabelle vergleicht. Sein Trainer Daniel Gisiger gibt ihm auf der Bahn per Pad und Pfeife Signale, wie er im Rennen liegt und schnell wird klar: Jens Voigt ist auf Rekordkurs.
Das Sitzpolster zwickt
Zur Halbzeit dann plötzlich sorgenvolle Blicke am Rande der Strecke: Denn Voigt muss mehrfach sein Sitzpolster richten, das ihn bei der Fahrt zu stören scheint. Voigt geht aus dem Sattel, in den Wiegetritt, eine aerodynamisch ungünstigere Position. Aber das Problem scheint schnell behoben. Jens Voigt fährt weiter ein hohes Tempo, begleitet von rund 2000 begeisterten Zuschauern im Velodrom Suisse.
Eine Viertelstunde vor dem Schluss gibt ihm Trainer Gisiger grünes Licht: Jens Voigt kann nun seinen Rhythmus fahren und muss sich nicht länger an den Marschplan halten. Wie entfesselt unterbietet er nun seine Rundenzeiten, fährt sich regelrecht in einen Temporausch. Und dann ist es geschafft.
Die UCI haucht einem Klassiker neues Leben ein
51,115 Kilometer sind es am Ende, die Jens Voigt auf der 250 Meter langen Radbahn binnen einer Stunde abgespult hat. "Ich wollte nicht langsam in die Rente rollen, ich wollte gerne mit einem Knall abtreten", hatte Voigt vor seinem nun wirklich allerletzten Arbeitstag als Radprofi gesagt. Als erster Deutscher holt er sich den Rekord und überbot den bisherigen Rekordhalter Ondrej Sosenka um 1415 Meter. Der Tscheche stellte 2005 in Moskau mit 49,700 Kilometern die letzte Bestmarke auf, danach verlor die Radsportelite das Interesse am Stundenweltrekord, der eine lange Tradition hat. Den ersten Rekord von 35,325 Kilometern fuhr 1893 der spätere Tour-de-France-Gründer Henri Desgrange.
Es folgten viele große Namen wie Jacques Anquetil oder Eddy Merckx und noch mehr technische Innovationen, die die Kilometerleistung immer weiter hochtrieben. Doch dann änderte der Weltradsportverband UCI die Regeln, wollte nur noch klassische Räder bei Rekordversuchen sehen. Der neue UCI-Präsident Brian Cookson änderte in diesem Jahr die Regeln erneut, erlaubte wieder schnelle Zeitfahrräder und wollte dem Wettbewerb neues Leben einhauchen - mit Erfolg.
Wer will Voigt nun überbieten?
Jens Voigt ist sicher nicht der letzte Radprofi, der nach der Liberalisierung des Regelwerks einen Rekordversuch unternimmt. Zeitfahrspezialisten wie Tony Martin oder Fabian Cancellara dürften sich seinen Ritt auf dem Zeitfahrrad genau angesehen haben. Doch egal, was in Zukunft kommt: Jens Voigt hat seinen Platz in den Geschichtsbüchern des Radsports sicher.
Mit hochrotem Kopf steigt er nach seiner letzten Runde auf dem Oval von seinem Spezial-Rad und trinkt erst einmal zwei Flaschen Wasser leer, ehe er das Erlebte in Worte fasst: "Ich bin überglücklich. Das war das letzte Mal in meinem Leben, dass ich mich so quälen musste und ich war deutlich schneller als ich erwartet hatte. Jetzt müssen die anderen kommen und schneller fahren", sagt er mit seinem typischen Grinsen im Gesicht. Jens Voigt hat im letzten Rennen seiner Karriere vorgelegt, jetzt wird sich zeigen, wer die Herausforderung annimmt.