Japans ältere Menschen leiden unter Einsamkeit
18. Dezember 2024Erst Ende November ging die 85-jährige Ikuko Arai in den Ruhestand. Sie arbeitete für eine gemeinnützige Organisation in Tokio. Sie sei froh und gleichzeitig besorgt, sagt sie im Gespräch mit der DW.
Arai lebt seit dem Tod ihres Mannes vor 16 Jahren allein. Sie fürchtet, dass sie durch das Ende ihrer Berufstätigkeit von der Gesellschaft isoliert werden und einen "einsamen Tod" erleiden könnte. Diese Angst ist in Japan weit verbreitet, einem Land mit einer rasch alternden Bevölkerung.
Ein Bericht des Nationalen Instituts für Bevölkerungs- und Sozialforschung zeigt, dass Haushalte mit einer Person bis 2050 44,3 Prozent aller Haushalte ausmachen werden - in Tokio sogar 54,1 Prozent. Die Zahl alleinlebender Menschen über 65 könnte bis dahin auf 10,83 Millionen steigen, was einer 1,5-fachen Erhöhung gegenüber dem Jahr 2020 entspricht.
Angst vor dem Alleinsein
"Die Angst, allein zu sein, ist überwältigend", so Arai im Gespräch mit der DW. "Ich könnte alle meine Sorgen aufzählen, aber ich werde mein Bestes tun, solange es mir gut geht."
Arai fügt hinzu, dass sie sich durch ihre Arbeit sozial nie isoliert fühlte. "Ich war immer beschäftigt. Doch jetzt bin ich im Ruhestand und habe keine Beschäftigung mehr. Das ist für mich der Moment der Wahrheit", sagt sie. "Ich werde versuchen, Strategien umzusetzen, die mir helfen, nicht isoliert zu werden."
Nach 32 Jahren bei der Women's Association for a Better Aging Society (WABAS), wo sie bis zur Generalsekretärin aufstieg, kennt Arai Herausforderungen, vor denen ältere Menschen in Japans schnelllebiger Gesellschaft stehen.
"Wir haben den Verein 1983 mit der Mission gegründet, Ehefrauen von der ständigen Pflege älterer Menschen zu befreien, die Sozialisierung der Pflege zu fördern und die japanische Gesellschaft zu einem besseren Ort für ältere Menschen zu machen."
"In unserer Gesellschaft galt es lange als selbstverständlich, dass die Pflege betagter Eltern die Aufgabe des ältesten Sohnes und seiner Frau ist. Da die Männer berufstätig waren, wurde von der Frau des ältesten Sohnes erwartet, ihre Karriere- und Lebenspläne aufzugeben, um sich um die Schwiegereltern zu kümmern." Das habe sich nun sehr stark verändert.
"Wir leben in einer Zeit, in der alte Menschen nicht mehr mit ihren Kindern und Enkeln in einem Haus leben, sondern alleine. Viele, vor allem Frauen, wollen ihre Unabhängigkeit und sagen, dass sie mit ihrer Rente und ihren Ersparnissen auskommen können, aber es gibt offensichtliche Nachteile."
Soziale Isolation ist nur eine der vielen Herausforderungen, mit denen ältere Menschen konfrontiert sind, insbesondere wenn ihre Kinder nicht in der Nähe wohnen. Hinzu kommt das Risiko finanzieller Schwierigkeiten, das mit einem sich verschlechternden Gesundheitszustand wächst.
Laut Arai wächst unter Senioren die Besorgnis über organisierte kriminelle Gruppen, die gezielt alleinlebende ältere Menschen ins Visier nehmen. Das Land verzeichnete eine Welle von Einbrüchen, darunter auch Vorfälle, bei denen Senioren verletzt oder sogar getötet wurden.
Sicherere Gesellschaft
"Wir fordern die Regierung auf, eine Gesellschaft zu schaffen, die für ältere Menschen wieder sicher ist", so Arai. "Es ist an der Zeit, die Zahl der Nachbarschaftswachen zu erhöhen und Möglichkeiten zu schaffen, damit ältere Menschen neue soziale Bindungen in ihrer Umgebung aufbauen können."
Hiroshi Yoshida, Professor für Ökonomie des Alterns an der Tohoku-Universität, stimmt dem zu. Er betont, dass die Herausforderungen, mit denen ältere Menschen im heutigen Japan konfrontiert sind, enorm seien.
"Es muss mehr getan werden, um sicherzustellen, dass ältere Menschen ihre letzten Tage nicht in Einsamkeit verbringen und unter 'Kodokushi' - dem japanischen Begriff für einen einsamen Tod - leiden", fordert Yoshida.
"Die durchschnittliche Lebenserwartung in Japan liegt heute bei über 80 Jahren und könnte in Zukunft fast 100 Jahre erreichen. Gleichzeitig stellen wir jedoch fest, dass ältere Menschen zunehmend unter körperlichen und psychischen Gesundheitsproblemen leiden, was das Gesundheitssystem stark belastet", erläutert er der DW.
Yoshida weist darauf hin, dass soziale Isolation besonders in den städtischen Gebieten Japans ein drängendes Problem ist. "Gleichzeitig muss aber auch die Kommunikation zwischen älteren Menschen in ländlichen Regionen verbessert werden." Er verweist auf internationale Studien, die einen klaren Zusammenhang zwischen Einsamkeit, sinkendem Selbstwertgefühl und einer Verschlechterung der Gesundheit älterer Menschen zeigen.
Japan wird alt
"Um den Herausforderungen einer superalternden Gesellschaft zu begegnen, muss die Regierung Netzwerke schaffen, die es älteren Menschen erleichtern, miteinander in Kontakt zu treten und gemeinsame soziale Aktivitäten zu organisieren", erklärt er. "Dies würde nicht nur die körperliche und geistige Gesundheit dieser Generation fördern, sondern auch die finanzielle Belastung durch Pflege reduzieren, da die Menschen gesünder und glücklicher wären."
Wie Arai ist auch Yoshida der Ansicht, dass Frauen eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der Herausforderungen in Japans alternder Gesellschaft spielen. Er spricht sich klar dagegen aus, Frauen im arbeitsfähigen Alter zur Pflege älterer Verwandter zu verpflichten, da dies ihre Karrierechancen, höhere Einkommen und Kaufkraft einschränken würde - Faktoren, die wiederum den Konsum und das Wirtschaftswachstum stärken könnten.
"Wir benötigen mehr berufstätige Frauen, um die Produktivität der Wirtschaft insgesamt zu steigern. Das bedeutet jedoch zwangsläufig, dass Männer stärker in Haushalt und Pflege eingebunden werden müssen", ergänzt er.