Japans LDP sucht neuen Parteichef
7. September 2021Aberglaube prägt Japans politische Welt, etwa der "olympische Fluch". Jeder Premier, der jeweils bei den Olympischen Spielen in Tokio 1964, Sapporo 1972 und Nagano 1998 amtierte, trat im selben Jahr zurück. Oder der Umfragefluch: Ein Regierungschef, dessen Zustimmungsrate unter 30 Prozent verharrt, hält sich nicht mehr lange oben.
Nun strafen die Flüche Yoshihide Suga, auf den beides zutrifft. Die Olympischen Spiele endeten gerade und seine Umfragewerte liegen unter 30 Prozent. Am vergangenen Freitag (3.9.) verzichtete der 72-Jährige darauf, sich um die Wiederwahl als Vorsitzender der Regierungspartei LDP zu bewerben. Damit verliert er Ende September auch sein Amt als Premier, da die zwei Posten traditionell verbunden sind.
Spätestens seit der unerwarteten LDP-Niederlage bei der Bürgermeisterwahl in der 4-Millionen-Metropole Yokohama im August galten Sugas Chancen, den Parteivorsitz zu behalten und dadurch Premier zu bleiben, bestenfalls als durchwachsen. Seine geringe Popularität hängt damit zusammen, dass er der bisher stärksten Coronawelle außer einem hohen Impftempo nichts entgegensetzen will. Aber dass Suga nun gar nicht mehr die Vorsitzendenwahl antritt, hat seine Liberaldemokratische Partei ins Chaos gestürzt. In der Folge ist bisher kein klarer Favorit für seine Nachfolge in Sicht.
Erneute volatile Periode droht
Damit droht Japan, zu politisch instabilen Zeiten wie nach 2006 mit sechs Premiers in sechs Jahren zurückzukehren. Auch hier herrscht ein politischer Aberglaube. Auf starke langjährige Amtsinhaber wie Yasuhiro Nakasone und Junichiro Koizumi folgt oft eine volatile Periode mit wechselnden Premiers und viel politischem Stillstand.
Die Geschichte könnte sich nun wiederholen, nachdem Shinzo Abe von 2013 bis 2020 dominierte. Wie zur Bestätigung wirft Abes Nachfolger Suga schon nach nur einem Jahr das Handtuch.
Allerdings hat sein plötzlicher Rückzug die Machtdynamik innerhalb der LDP verändert. Die anstehende Parlamentswahl, die laut Wahlgesetz bis Ende November stattfinden muss, erzeugt zusätzlichen Handlungsdruck.
Seit 1955 hat die LDP fast ununterbrochen regiert und 23 Premierminister hervorgebracht. In der Regel gewinnt derjenige Politiker die Wahl zum Parteichef, den die Mehrheit der aktuell sieben LDP-Faktionen als Kompromiss akzeptieren kann. Diese Gruppen stimmen meist als Block ab, was den oft alten Faktions- und Parteiführern große Macht verleiht.
Zuletzt hatten Ex-Premier Abe (66), Finanzminister Taro Aso (80), LDP-Steuerkomitee-Chef Akira Amari (72) und LDP-Generalsekretär Toshiro Nikai (82) den Chefposten ausgekungelt. Die "3 As", wie das Trio Abe, Aso und Amari parteiintern heißt, machten Suga vor einem Jahr zum Partei- und Regierungschef. Aber Abe und Aso, hinter denen die zwei größten Faktionen stehen, ließen Suga fallen, als er vergangene Woche versuchte, die Parteiführung und das Kabinett umzubilden, um seine Haut zu retten. "Es wäre nicht das erste Mal, dass die grauen Eminenzen der LDP einem Premierminister den Stecker gezogen haben", meint der Politologe Axel Klein von der Universität Duisburg.
Machtkampf der Generationen
Doch der Einfluss dieser Strippenzieher schwindet. Vor allem infolge der hohen LDP-Wahlsiege seit Ende 2012 ist eine jüngere Generation von Politikern ins Parlament eingezogen. Fast der Hälfte der LDP-Abgeordneten ist inzwischen unter 60. Diese neue Garde bevorzugt einen Kandidaten mit einem "frischen Gesicht", der bei den Wählern populär ist. Andernfalls drohen der LDP bei der anstehenden Parlamentswahl hohe Stimmenverluste, die vor allem jüngere Abgeordnete ihr Mandat kosten würde. Ihr Favorit ist Reformminister Taro Kono (58), weil er in Wählerumfragen am besten abschneidet. Auf Twitter reagiert Kono oft persönlich auf Kommentare von seinen 2,3 Millionen Followern. "Würde die Dominanz der Abe-Gruppe gebrochen, kann dies eine Verjüngung der LDP- und Regierungsspitze einleiten", sagt Politologe Klein, der ein Experte für Japans Parteien ist.
Die LDP-Altvorderen bevorzugen Ex-Außenminister Fumio Kishida (64), der als Erster offiziell für den Parteivorsitz kandidiert und eine eigene Faktion anführt. Dagegen lehnt die etablierte Parteielite den Herausforderer Kono als Parteichef ab. Zwar gehört er zur Faktion von Aso, aber nach dessen Geschmack schert sich Kono zu wenig um Partei- und Kabinettsräson. Zum Beispiel verkündete Kono als Verteidigungsminister den Verzicht auf ein landgestütztes US-Raketenabwehrsystem, ohne den damaligen Regierungschef Abe vorab zu informieren.
Allerdings sind Konos Chancen gewachsen, sich gegen Kishida durchzusetzen. Bis zu fünf der sieben Faktionen könnten ihren Mitgliedern laut japanischen Medienberichten erlauben, nach eigenem Gusto abzustimmen, falls sich die Gruppe nicht auf die Unterstützung eines einzelnen Kandidaten verständigen kann. Außerdem signalisierte der langjährige Abe-Rivale Shigeru Ishiba (64), der selbst eine Faktion anführt, nicht wie im Vorjahr selbst für den Parteivorsitz zu kandidieren, sondern Kono zu unterstützen.
Gleichzeitig wandte sich Abe unerwartet von Kishida ab und stellte sich hinter die ultrakonservative Ex-Innenministerin Sanae Takaichi (60), die jedoch nach Ansicht des Politologen Klein für die Mehrheit der LDP nicht attraktiv ist.