Die verlorenen Jugendlichen von Molenbeek
24. November 2015Molenbeek, die angebliche Hochburg der Dschihadisten mitten in Europa. Junge Männer, die aus diesem Stadtteil stammen, sollen an den Anschlägen von Paris beteiligt sein.
Ich habe immer davon gehört. Nun war ich zwölf Stunden lang in Molenbeek, um für die Deutsche Welle eine Reportage zu drehen und konnte fragen, fragen und nochmals fragen. Mein erster Eindruck war: Es gibt ganz viele Bürger, die muslimischen Glaubens sind und die sich entschieden haben, friedlich an einem Ort zu leben, an dem sehr viele Gleichgläubige sind. Genauso wie es auch coole Viertel gibt, in denen sehr viele Hipster leben, weil sie sich bewusst für einen Kiez mit vielen Hipstern entschieden haben.
Der Unterschied ist, dass die Muslime hier verängstigt und verunsichert sind. Sie haben das Gefühl, sich immer wieder dafür rechtfertigen zu müssen, Muslim zu sein. Vor allem Frauen mit Kopftuch und Männer mit muslimischen Bärten, also nicht die Hipster-Variante, erzählten mir, dass sie diskriminiert würden.
Ein ganz kleiner Anteil jener, mit denen ich reden konnte, bereitet mir im Nachhinein große Sorgen. Egal, was ich sie gefragt habe, immer antworteten sie mit Versen aus dem Koran und wollten mir gleich eine Vorlesung halten. Ob sie wirklich begriffen, was sie da sagten oder nur auswendig Gelerntes herunterbeteten, war mir nicht klar. Wenn ich nachgehakt habe, wichen sie aus oder flüchteten vor sich hinmurmelnd in irgendwelche theoretischen Erörterungen.
Dieser sehr kleine Anteil schien mir in einer parallelen Welt zu leben - körperlich zwar in Molenbeek, aber geistig irgendwo in einem anderen Jahrhundert. Nur eines schien mir für sie wichtig zu sein: der Islam, der ihr Leben komplett bestimmt. Mit Stolz trugen sie ihren Hass auf den Westen vor sich her. Der Westen, der an allem schuld sei, was falsch in der Welt laufe. Sie selbst seien Opfer. Der belgische Staat sei nur ein Peiniger, der sie beobachten, bewachen und einengen würde. Doch andersherum konnten sie keine Erklärung dafür liefern, warum sie hier sind, wenn sie sich nicht wohlfühlen, warum sie sich entschieden haben, hier zu leben.
Wie soll man diese Menschen integrieren? Wenn sie selbst doch gar nicht das Bedürfnis dazu haben. Wenn Integration hier bedeuten würde, Werte anzuerkennen, nach denen man nicht leben will? Worin sollen sie sich denn integrieren, wenn sie rundherum ihre ganz eigene Welt haben, in der sie abgeschottet von neuen, anderen Impulsen leben? Ich habe große Zweifel daran, dass das gelingen kann.
Diese kleine Minderheit ist für mich ein großes Fragezeichen. Sie repräsentieren das, wovor wir Angst haben. Zwar ist es vielleicht nur ein Tropfen in einem Wasserglas. Aber schon ein Tropfen Tinte kann ein ganzes Glas mit Wasser blau färben. Es gibt diese Minderheit sicherlich in jeder Gemeinschaft, man denke nur an die Rechtsextremisten. Aber sie sind immer eine Gefahr. Alles mögliche Menschenrechtskonforme muss getan werden, um das Leben der Mehrheit zu schützen.
Ich war in der Khalil-Moschee, eine der größten in Molenbeek. Hier gibt es auch eine Schule, in der Kinder Arabisch lernen und Religionsunterricht bekommen. Obwohl ich ja selber Araber bin, hat schon der Hausmeister total ablehnend auf uns reagiert. Wie werden wohl die Lehrer ticken, habe ich mich gefragt? Drehen durften wir nicht, sie haben uns sogar verboten, mit den Gläubigen zu reden. Immerhin konnte ich dann mit einer Studentin sprechen. Sie hat mir gesagt, alles sei gut. Trotzdem habe ich mich komisch gefühlt.
Am Ende des Tages gingen Hunderte Bewohner von Molenbeek auf die Straße, um ein anderes Bild dieses Vororts zu zeigen. Dieses Signal ist wichtig und notwendig! Sollten nicht auch die Muslime in ganz Europa an einem Tag alle gemeinsam auf die Straße gehen, um ein Zeichen zu setzen? Nein, ich meine nicht die Verbände, sondern die Mitte der Gesellschaft. Die Sache wird sicherlich nicht leicht zu bewerkstelligen sein, aber sie ist es wert, diskutiert zu werden. Denn als Pegida demonstrierte, sind die Pegida-Gegner schließlich auch auf die Straße gegangen - obwohl sie damit nichts zu tun hatten. Sie setzten damit ein Zeichen, das auch den Migranten in Deutschland geholfen hat. Menschen brauchen Signale! Damit ist das ein für alle Mal gesagt!
Ich bin der Letzte, der Islamophobie verbreiten möchte. Aber die Muslime untereinander müssen ehrlich sein. Vor allem in Europa brauchen sie in ihren eigenen Reihen eine Debatte darüber, wie man mit Extremisten umgehen will, denn sie schädigen den Ruf ihres Glaubens. Dieser Schritt ist notwendig um realitätsnahe Lösungsansätze gemeinsam mit der Politik und der Zivilgesellschaft zu finden. Muslime sollen sich proaktiv beteiligen. Sie müssen auch agieren und nicht nur reagieren. Die Rolle von Religion in der Gesellschaft muss dabei klar sein. Konkret: Werte wie Demokratie, Gleichheit und Freiheit sind nicht verhandelbar.
Jaafar Abdul Karim 33, ist Moderator und Verantwortlicher Redakteur der arabischsprachigen Jugendsendung ShababTalk der Deutschen Welle. Das Format erreicht mit seinen gesellschaftskritischen Themen ein Millionenpublikum in Nordafrika, Nahost und der Golfregion. Geboren wurde Jaafar Abdul Karim in Liberia, seine Eltern stammen aus dem Libanon. Dort sowie in der Schweiz wuchs er auf, studiert hat er in Dresden, Lyon, London und Berlin, wo er heute lebt. Seine Kolumne heißt Jaafar, shu fi?, arabisch für: „Jaafar, was geht?“
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