Jaafar, shu fi? Ihr seid jetzt Deutschland!
22. September 2015Vor zwei Wochen habe ich zwei Tage auf dem Gelände eines ehemaligen Altenheims in Berlin-Gatow verbracht. Ich wollte die Bewohner dieses Heims näher kennenlernen, ihnen zuhören, mit ihnen reden, sie verstehen und ihnen durch meine Sendung "ShababTalk" eine Stimme geben. 600 Menschen aus aller Welt wohnen hier: jung und alt, Frauen und Männer, gebildet und ungebildet. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind Flüchtlinge, die mit der Hoffnung auf Sicherheit und eine bessere Zukunft nach Deutschland gekommen sind. Es liegt mir am Herzen, dass sich die Flüchtlinge hier in Deutschland wohlfühlen. Deshalb schreibe ich ihnen den folgenden Brief.
Gleichzeitig ist dieser Brief der Auftakt meiner Kolumne "Jaafar, shu fi?" bei "Zeit Online" und dw.com, die auf Deutsch, Englisch und Arabisch erscheint.
Herzlich-Willkommen-Stimmung
Herzlich Willkommen! So wurdet Ihr "Flüchtlinge" an vielen Bahnhöfen in Deutschland begrüßt. Ahlan wa-sahlan (Deutsch: Willkommen)! habe ich auch gerufen. Ich freue mich sehr, dass Ihr endlich in Sicherheit seid, dass Ihr nach den ganzen Strapazen, nach tage- und wochenlanger Gefahr für Leib und Leben endlich durchatmen könnt.
Dieser Tage ist ganz Deutschland voller großer Emotionen. Auch die Medien haben Anteil an dieser bisher unbekannten Willkommenskultur, indem sie über Euch Flüchtlinge größtenteils positiv berichten! Auch viele Politiker sind mittlerweile Feuer und Flamme. Einige aus Überzeugung, andere sind berechnende Trittbrettfahrer.
Vergessen scheint zu sein, dass noch vor wenigen Wochen Pegida die Schlagzeilen bestimmte; es gibt Berichte über Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und die Frage, ob Deutschland überhaupt Flüchtlinge aufnehmen will und kann. Die Stimmung der Menschen und der Medien ist dann plötzlich zu Euren Gunsten gekippt. Sie kann aber genauso plötzlich wieder in die andere Richtung kippen, sobald nur einer von Euch etwas Schlechtes tut. Manche Menschen und Medien pauschalisieren schnell.
Liebe "Flüchtlinge", egal, wo Ihr herkommt, ob aus Damaskus, Bengasi oder Bagdad: Ich kenne viele Eurer Heimatstädte gut. Meiner Abstammung nach könntet Ihr ein Teil meiner Familie sein. Und als Familie sollten wir offen und ehrlich miteinander reden.
Mir ist wichtig, dass die Herzlich-Willkommen-Stimmung in Deutschland Euch gegenüber bleibt, damit Ihr hier ein gutes Leben führen könnt. Deshalb ist es unumgänglich, dass Ihr den sogenannten besorgten Bürgern, die Euch gegenüber skeptisch sind, beweist, dass sie falsch liegen.
Lernt die deutsche Sprache!
Das fängt mit der Sprache an. Bitte lernt die deutsche Sprache so schnell wie möglich. Es ist eine schöne Sprache und sie ist der Schlüssel zur deutschen Gesellschaft, zu Eurer neuen Heimat. Durch diese Sprache werdet Ihr Glücksmomente teilen können. Die Sprache wird Euch helfen, die anderen besser zu verstehen. Wichtiger noch ist, dass Ihr durch die Beherrschung des Deutschen unabhängiger in Deutschland werdet. Ihr seid nicht mehr auf Übersetzer und Helfer angewiesen und könnt Euer Leben ein Stückchen mehr selbst in die Hand nehmen.
Denn eines ist sicher: Auch Mohammed und Samira können hier so ziemlich alles werden, wovon sie träumen. Das ist wirklich so! Wichtigste Voraussetzung dafür aber ist Bildung. Sorgt dafür, dass Eure Kinder weiter zur Schule gehen, die kleinen wie die großen, die Jungen wie die Mädchen. Das gibt ihnen die Chance auf Erfolg, unabhängig von Eurer sozialen Situation.
Leben und leben lassen ist ein bewährtes Motto in Deutschland. Macht es bitte auch zu Eurem Mantra. Wenn sich ein Paar auf der Straße küsst, und seien es zwei Männer oder zwei Frauen, dann nehmt es so hin, auch wenn es vielleicht ein Schock für Euch ist. Dass Ihr daran nicht gewöhnt seid, heißt nicht, dass es falsch ist. Ihr lebt jetzt in einem anderen Wertesystem, das Ihr respektieren sollt, damit wir alle hier friedlich zusammenleben können.
Das Sozialsystem in Deutschland ist super; das ist sicherlich auch der Grund für den einen oder anderen Flüchtenden, nach Deutschland einwandern zu wollen. Nehmt es nicht als selbstverständlich hin. Dafür, dass Ihr unterstützt werden könnt, haben viele andere lange arbeiten müssen. Deshalb sucht Euch, sobald die bürokratischen Hürden überwunden sind und Ihr arbeiten dürft, eine Arbeit und packt mit an.
Respektiert andere Bräuche und Religionen!
Ich freue mich, dass Ihr hier bald das islamische Opferfest Id al-Adha feiern könnt, vielleicht zum ersten Mal seit Jahren in Sicherheit. Aber es gibt hier auch andere Religionen und Bräuche, die Ihr respektieren sollt, genauso wie Ihr Euch Respekt für Eure Religion und Eure Bräuche wünscht. Und da wir beim Respekt sind: In Deutschland gibt es Andersgläubige, es gibt Nichtgläubige. Ungläubige, Kuffar, aber, die gibt es hier nicht - und soll es auch nicht geben.
Importiert keine konfessionellen Spannungen, ethnischen Konflikte oder politische Unterdrückung nach Deutschland. Vergesst niemals, dass Ihr aus diesen Gründen Eure Heimat verlassen musstet und vielleicht Eure Liebsten verloren habt. Sunniten neben Schiiten, Kurden neben Türken, Muslime neben Juden oder Atheisten neben Christen. Hier sind wir alle Nachbarn. Das ist Eure einmalige Chance, für Eure Familie für immer Frieden zu finden. Damit Ihr nicht fremd in diesem Land bleibt.
Unter uns gesagt: Die deutsche Gesellschaft und die deutsche Regierung müssen noch einiges verbessern. Aber das gelingt nur gemeinsam. Ihr dürft Eure Ideen und Wünsche frei und laut sagen. Aber Ihr müsst auch zuhören und verstehen können. Politik wird hier von allen gemacht, jeder kann mitgestalten. Seid also nicht bloß Zuschauer! Lasst Euch nicht entmutigen von Menschen, die Euch immer ablehnen werden, egal was Ihr macht.
In diesem Sinne würde ich mich freuen, wenn wir eines Tages gemeinsam am Bahnhof stehen würden, um den neuen Flüchtlingen zu sagen: Herzlich willkommen!
Jaafar Abdul Karim, 33, ist Moderator und Verantwortlicher Redakteur der arabischsprachigen Jugendsendung "ShababTalk" der Deutschen Welle. Das Format erreicht mit seinen gesellschaftskritischen Themen ein Millionenpublikum in Nordafrika, Nahost und der Golfregion.
Geboren wurde Jaafar Abdul Karim in Liberia, seine Eltern stammen aus dem Libanon. Dort sowie in der Schweiz wuchs er auf, studiert hat er in Dresden, Lyon, London und Berlin, wo er heute lebt.
Seine Kolumne auf "Zeit Online" und dw.com heißt "Jaafar, shu fi?", arabisch für: "Jaafar, was geht?"