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Corona-"Notbremse" rückt näher

21. April 2021

Proteste auf den Straßen Berlins, Befürchtungen der Polizei vor Angriffen Radikaler auf den Reichstag - der Bundestag beschließt verschärfte Corona-Regeln. Auch Ausgangssperren werden möglich. Sie bleiben umstritten.

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Deutschland Demonstration gegen Corona-Beschränkungen
Vor dem Brandenburger Tor: Tausende demonstrieren gegen (weitere) Corona-BeschränkungenBild: Jörg Carstensen/dpa/picture alliance

Es ist wieder so ein Tag der Anspannung im politischen Berlin. Der Bundestag will Änderungen am Infektionsschutzgesetz beschließen, Verschärfungen. Und sogenannte Querdenker wollen an mehreren Orten demonstrieren, Extremisten haben auch zum Sturm auf den Reichstag aufgerufen.

Schon früh am Morgen haben Sicherheitskräfte weit um das deutsche Parlament Absperrungen gezogen. Die Polizei ist nach offiziellen Angaben mit 2500 Kräften im Einsatz. Sturm auf den Reichstag - das weckt Erinnerungen an den August 2020, als eine ähnliche Demonstration eskalierte und Protestler bis an die Pforten des Parlaments vordrangen. Oder an die Szenen vom 6. Januar 2021 aus Washington, als Extremisten das Kapitol stürmten. 

Deutschland Sicherheitsmaßnahmen am Reichstagsgebäude
Schon am Morgen weiträumig abgesperrt: Das Reichstagsgebäude mit dem Plenarsaal des BundestagesBild: Jörg Carstensen/dpa/picture alliance

"Nationale Tragweite"

Die nervöse Spannung auf den Straßen Berlins hat vor 11 Uhr keine Entsprechung drinnen im Parlament. Das ändert sich rasch nach Beginn der Debatte. Da geht es um Verschärfungen der bisherigen Corona-Regeln, um die sogenannte "Notbremse". Die große Koalition hat das Gesetz "zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite" in der vorigen Woche in das parlamentarische Verfahren eingebracht. Nun soll, ungewöhnlich rasch, der Bundestag beschließen.

Zum Auftakt gibt es eine Debatte zur Geschäftsordnung. Schon die Geschäftsordnungsdebatte, über gut 20 Minuten, wird laut. Es wird auch gebrüllt. Einige Male muss Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble die Redner bremsen. Der Geschäftsführer der AfD-Fraktion nennt das ganze Vorhaben eine "Farce" und beklagt das Tempo der Beratungen, das eine Bewertung unmöglich mache.

AfD ohne Masken

Dem widersprechen Redner und Rednerinnen aller anderen Fraktionen. FDP-Geschäftsführer Marco Buschmann wirft den Rechtspopulisten "Heuchelei" vor. Noch turbulenter wird es, als sein Linken-Kollege Jan Korte spricht. Die AfDler hätten eben nicht am Gesetzentwurf gearbeitet, sondern würden wohl "auf Querdenker-Demos rumhängen".

Deutschland Proteste gegen Corona-Auflagen in Berlin
Ein AfD-Abgeordneter: Auch Hansjörg Müller spricht bei den ProtestenBild: Christian Mang/Reuters

Und dann wendet er sich sehr direkt an die AfD-Fraktion: "Sie sitzen hier in Ihrer ganzen braunen Pracht ohne Masken", sagt er. In der Tat: Knapp vier dutzend Abgeordnete sitzen in den elf Reihen hinter Fraktionschef Alexander Gauland. Lediglich zwei oder drei tragen im Sitzen eine Maske. Das ist im Parlament nicht verboten: Der Mund-Nasen-Schutz ist nur Pflicht, solange man geht oder steht. Doch in keiner der anderen Fraktionen sieht man in diesem Moment ein unbedecktes Gesicht. "Die AfD macht sich mit Querdenkern gemein", sagt die Grünen-Geschäftsführerin Britta Haßelmann.

Das ist die Stimmung, die auch die einstündige Debatte zur Sache prägt. Aber eins fällt auf: Nun klatschen nicht mehr alle füreinander - und gegen die AfD. Nie hebt sich bei den Liberalen eine Hand zum Beifall, wenn ein Koalitionsvertreter spricht. Gelegentlich applaudieren aber Sozialdemokraten oder Unionsvertreter auch für Grüne oder Linke. 

Scholz spricht, Baerbock schweigt

Als prominentester Redner verteidigt Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) die Neuregelungen. Es gehe nicht um einen Dauerzustand, sondern darum, die Pandemie zu überwinden. Merkel und acht andere Kabinettsmitglieder lauschen Scholz, dem Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten für die Bundestagswahl. Merkel selbst spricht nicht. Auch nicht die neue grüne Spitzenfrau Annalena Baerbock, die weit hinten in den Reihen ihrer Fraktion sitzt. Und der schlussendlich gekürte Kandidat der Union, Armin Laschet, gehört als Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen nicht dem Bundestag an.

Deutschland Jens Spahn (CDU), Bundesminister für Gesundheit
"Ernste Lage": Gesundheitsminister Jens Spahn im BundestagBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

"Die Lage ist ernst, sehr ernst", mahnt Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). 5000 Menschen lägen derzeit mit COVID-19 auf Intensivstationen: "Tendenz weiter steigend, bei sinkendem Alter der Patienten." Die nun angestrebte Notbremse solle bundesweit verbindliche Regeln für schärfere Corona-Gegenmaßnahmen festlegen - mit konkreten Vorgaben bei hohen Infektionszahlen: Ausgangsbeschränkungen von 22.00 Uhr bis 5.00 Uhr, Schulschließungen, strengere Bestimmungen für Geschäfte. Und Spahn betont, dass all das nur bis Ende Juni rechtliche Geltung haben werde. Bis dahin, hofft er, solle mehr als jeder dritte Deutsche geimpft sein. "Aber als Brücke braucht es dieses Gesetz."

"Dem soll die Hand abfallen"

So geht es weiter. Krudeste Worte - wie der Vorwurf "Inzidenzfetischisten" - kommen von der AfD. Oder auch von mittlerweile fraktionslosen Alt-AfDlern wie Mario Mieruch. "Wer für dieses Gesetz abstimmt, dem muss die Hand abfallen", sagt er.

Die schärfste Kritik in der Sache kommt von den Liberalen. Seit längerem und erneut in dieser Debatte drohen sie mit einem Gang vors Bundesverfassungsgericht. Minuten vor Beginn der Debatte kündigen diesen Schritt bereits die Freien Wähler an, die in Bayern Teil der Landesregierung sind und nun auf die Bundestagswahl hoffen. Sie wollen an diesem Donnerstag ihre Verfassungsbeschwerde in der Bundespressekonferenz erläutern, nachdem auch der Bundesrat, die zweite deutsche Kammer, dem Gesetz zugestimmt hat.

Steinmeier prüft

Die neuen Regelungen könnten frühestens vom kommenden Samstag an greifen. Das hängt davon ab, wann Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Gesetz nach entsprechender Prüfung auf Verfassungstauglichkeit unterzeichnet.

Symbolfoto Nächtliche Ausgangssperre
Zwischen 22 und 5 Uhr: Bei hohen Infektionszahlen drohen AusgangssperrenBild: Christoph Hardt/Geisler-Fotopres/picture alliance

Angesichts zahlreicher Änderungsanträge von den Oppositionsparteien gibt es im Bundestag einen ungewöhnlich langen Abstimmungsprozess. Erst nach über zweieinhalb Stunden steht fest: Mit der ausreichenden Mehrheit (342 Ja-Stimmen, 250 Nein-Stimmen, 64 Enthaltungen) beschließt der Bundestag das Gesetz. Die Grünen hatten in der Debatte angekündigt, sich zu enthalten.

Draußen vor der Tür liegt Hubschrauberlärm über der Gegend. Die Wasserwerfer vom Morgen sind weg. Ab und an weht der Wind eine Polizeisirene herüber. "Ich muss hier durch, ich muss zu meiner Arbeitsstelle in der Charité", bittet eine Radfahrerin einen kontrollierenden Polizisten an der Absperrung. Aber auch nach mehrfacher Frage - sie bittet vergeblich.