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Politik

"Izmir gehört überhaupt nicht zur Türkei"

Daniel Heinrich
15. April 2017

Die ganze Türkei steht hinter Erdogan? Falsch. In Izmir sagt man "Hayir", "Nein", zum Machtanspruch der AKP. Kurz vor dem Referendum liegen jedoch auch hier Schatten über der Stadt. Daniel Heinrich berichtet aus Izmir.

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Nein zu Erdogan  Istanbul
Bild: Reuters/H.Aldemir

Andac Sevi Cevik ist eine Frau zum Verlieben. Ein Meter sechzig groß, wilde, leicht orange-getönte Locken, offenes Lachen. Diese Frau weiß definitiv was sie will, das gilt auch für das Verfassungsreferendum am Sonntag, bei dem die Türken über ein präsidentielles System abstimmen sollen: "Natürlich werde ich mit Nein stimmen", sagt die gelernte Marketingmanagerin voller Innbrunst: "Ich glaube, dass die Mehrheit der Türken mit Nein stimmen wird."

Cevik sitzt mit drei Freunden in einer türkischen Mischung aus Biergarten und Buchhandel, mitten in Alsancak, dem Szene- und Ausgehviertel von Izmir. Es ist Freitagabend, es ist voll, es ist laut und auf den Tischen stehen Weißbiergläser und Weingläser.

Für die gebürtige Istanbulerin Cevik ist Izmir eine Traumstadt: "Manchmal denke ich: 'Izmir gehört überhaupt nicht zur Türkei. Wir lieben hier unsere Freiheit. Wenn ich mich in der Türkei umgucke, dann herrschen überall chaotische Zustände. Aber die Regeln, die im Rest des Landes gelten, gelten nicht in Izmir."

Andac Sevi Cevik, ihre Freunde, dieser Abend, diese Atmosphäre sind symbolisch für eine Stadt, die seit Jahren dem Machtanspruch der religiös-konservativen AKP und von Präsident Recep Tayyip Erdogan trotzt.

Türkei | Vor dem Referendum: Die Stimmung in Izmir
Kritik an Erdogan? Andac Sevi Cevik hat davor keine AngstBild: DW/D. Heinrich

Izmir ist die Hochburg der größten Oppositionspartei des Landes, der kemalistischen CHP. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen haben hier fast 70 Prozent der Menschen gegen Erdogan gestimmt.

Sorgen vor Machtfülle für Erdogan

Und dennoch. Selbst in dieser liberalen Stadt an der Westküste scheint es dieser Tage schwer, sich dem landesweiten Druck der Regierung zu entziehen.  

Nicht weit von Andac Sevi Cevik und dem belebten Bar- und Szeneviertel entfernt, öffnet der Künstler Murat Karagöz die Tür seines kleinen Ateliers. Das Atelier ist halb renoviert, es riecht nach Farbe, die Toilette im Flur ist keine Sanitäranlage, sondern ein Kunstobjekt.

Murat Karagöz heisst nicht Murat Karagöz, der 38-jährige Maler aus Izmir möchte nicht, dass sein Name veröffentlicht wird. Er hat Angst: "Diese Regierung schert sich überhaupt nicht um Bürgerrechte. Viele Künstler sitzen in der Türkei schon unter fadenscheinigen Begründungen im Gefängnis, weil sie sich gegen die Regierung gestellt haben."

Wie die meisten seiner Kollegen und Freunde wird auch Karagöz mit "Hayir" ("Nein") stimmen. Offen darüber sprechen möchte er, wie auch sein Kollege, der dem Gespräch lauscht, nicht.

"Nicht einmal an den Universitäten gibt es einen freien Diskurs über den Weg unseres Landes. Sehen Sie: Ich möchte eine akademische Karriere einschlagen und bewerbe mich deswegen gerade an verschiedenen Universitäten. Sogar da muss ich aufpassen, was ich sage. An den meisten Orten findet nur noch die Zustimmung für die Regierungspositionen nach außen eine breite Unterstützung."

Verfassungsreferendum: Massive Behinderung der Opposition

Kristian Brakel kann solche Sorgen verstehen. Der Türkei-Experte leitet die Heinrich-Böll Stiftung in der Türkei. Im Gespräch mit der DW weist er auf die massive Benachteiligung der Opposition allein im Vorlauf zum Referendum hin:

"Die Unterstützer der Nein-Kampagne wurden vielfach von der Polizei bedrängt, ihre Plakate heruntergerissen, einige von ihnen mussten mit Verhaftungen rechnen. Diese Szenarien hatten zwar nicht überall und an allen Orten Gültigkeit, aber grundsätzlich lässt sich sagen: Das "Kampffeld", auf dem sich die beiden Seiten getroffen haben, war völlig ungleich."

Türkei - Plakat zum Putschversuch in der Türkei  - Referendum
"15 TEMMUZ" - "15. Juli": Der Tag des Putschversuches 2016 dient auch in Izmir dazu, für Präsident Erdogan zu werben.Bild: DW/D. Heinrich

Selbst bei Andac Sevi Cevik und ihren Freunden in Alsancak mischen sich im Verlaufe des Abends Zweifel ins selbstbewusste Auftreten. Die hippe, lockere Fassade bekommt bei genauerem Nachfragen Risse.

Die drei Freunde von Cevik wollen, können, dürfen nichts ins Mikrofon sprechen. Sie arbeiten für die Stadt und haben Angst ihren Job zu verlieren und auch das offene Lachen von Cevik verschwindet, als sie darüber nachdenkt was passieren könnte, wenn sich die Türken beim Referendum tatsächlich gegen Erdogans Willen entscheiden sollten:

"Ich mag mir gar nicht ausmalen was passiert, wenn die Mehrheit der Leute mit 'Nein' stimmt. Darüber wird die Regierung nicht sehr glücklich sein. Ich befürchte, dass schreckliche Dinge passieren werden."

Ceviks Sorgen scheinen berechtigt. Im Sommer 2015 musste die Regierungspartei AKP bei den Parlamentswahlen eine empfindliche Niederlage einstecken. Diese ging zu großen Teilen auf den Wahlsieg der pro-kurdischen HDP zurück. Die türkische Regierung kündigte daraufhin den Waffenstillstand mit der kurdischen Terrororganisation PKK auf und entfachte damit den Kurdenkonflikt aufs Neue. Hunderte unschuldiger Menschen sind seitdem getötet worden.