Italien: Auf der Suche nach Hoffnung
27. März 2020Während die Italiener in die dritte Woche ihres Lockdowns gehen, hat der Gesang von Balkonen und Fenstern des ganzen Landes aufgehört. Irgendwann (genaue Daten verschwimmen in der Zeit der Quarantäne), als die Zahl der Todesfälle durch das Coronavirus immer weiter anstieg, verschwand der allabendliche Termin auf dem Balkon stillschweigend. Die Flut der Internet-Memes über das Leben in der Quarantäne wurde weniger und die Stimmung auf den Straßen verdüsterte sich. Mehr als 9000 Menschen sind in Italien an dem Virus gestorben, so der Stand am Freitag (27.3.).
Vorbei das Lächeln, das anfangs zwischen Fremden noch aufblitzte. Diejenigen, die sich am helllichten Tag hinauswagen, werden von leeren Straßen - die ohne die sonst in doppelter Reihe geparkten Autos plötzlich so breit wirken - begrüßt. Die Stille in der Stadt wird nur von den Schritten eines einsamen Hundebesitzers oder eines Menschen, der sich mit Lebensmitteln eindeckt, durchbrochen. Die Gesichter sind maskiert, die Hände in Gummihandschuhe gehüllt. Es wird Abstand gehalten und der Blick abgewendet.
Da die Einschränkungen immer strenger werden, liegen die Nerven blank. Obwohl in weiten Teilen des Landes Bewegung in der Nähe des Wohnortes und Gassigehen mit dem Hund noch immer erlaubt sind, verbreiten sich im Internet immer mehr Videos von Politikern, die die Bürger ihrer Stadt anschreien und beschimpfen, sie sollten die Regeln befolgen. Anwohner scheinen sich berechtigt zu fühlen, andere zu schelten, die ihrer Meinung nach nicht genug "Social Distancing" betreiben. Ich wurde Zeugin, als eine Frau eine Mutter mit Töchtern beim Spaziergang mit ihrem Hund anging.
Zweifel am italienischen Konjunkturpaket
Das Erstaunen über die Schönheit Roms - befreit von Touristen und Autos - hat sich zu einer Ahnung von Dystopie verlagert: Im Inneren des schicken Nachkriegs-Bahnhofs zeigen riesige Bildschirme High-Fashion-Werbung vor einem riesigen leeren Atrium. Von dem Chaos der Reisenden und Pendler zeugen nur noch die liegen gelassenen Trolleys und Taschen, die von Roms Obdachlosen zur Seite geschleppt wurden. Draußen bewegen sich afrikanische Migranten, zuckende Drogensüchtige und Militärangehörige im Tarnanzug lustlos umher.
"Es werden noch viel mehr Menschen auf der Straße landen", glaubt Giacomo, ein älterer Concierge, der in einem kleinen Raum mit einem Brett vor der Tür am Eingang eines Wohnhauses in Rom sitzt. Diese Woche kündigte die italienische Regierung ein zweites Konjunkturpaket im Wert von 25 Milliarden Euro für April an. Aber viele Italiener, darunter auch Giacomo, glauben einfach nicht, dass sich Italien - ein Land, das sich seit mehr als einem Jahrzehnt nahe der Rezession befindet - dies leisten kann. "Wir sind eine Nation von Fußsoldaten, die wie Generäle gelebt haben."
Die Italiener sind sich der wirtschaftlichen Schwäche ihres Landes zwar mehr als bewusst, doch im Moment konzentrieren sie sich auf Zahlen: die täglichen Todesfälle, Neuinfektionen, Genesungen und die Gesamtzahl der Fälle, die die Katastrophenschutzbehörde jeden Abend um sechs Uhr wie ein düsterer Ausrufer verkündet.
Von dem Privileg atmen zu dürfen
Nach schockierenden 1400 Todesfällen am vergangenen Wochenende sank die Zahl in den darauf folgenden zwei Tagen auf 602. Es fühlte sich grausam an, über den Tod von 602 Menschen erleichtert zu sein, aber viele von uns waren es. Dann kamen die hohen Zahlen wieder zurück und seitdem ist es ein Auf und Ab.
Neue COVID-19-Fälle gingen vier Tage lang zurück, bevor sie wieder zunahmen, was die Hoffnung auf ein "Flatten the curve" – also einer Abflachung der Infektionskurve - zunichte machte. Angelo Borrelli, der Leiter der italienischen Katastrophenschutzbehörde, gab zu, was Virologen seit Wochen sagen: Da nur kranke Menschen getestet werden, ist die tatsächliche Infektionsrate wahrscheinlich zehnmal so hoch wie die offizielle.
Dennoch gibt es einige Lichtblicke. Mehr als 10.000 an Coronaviren erkrankte Menschen haben sich erholt. Unter ihnen auch der 38-jährige Fausto Russo, ein Personal-Trainer, der nie geraucht hat und an keiner Krankheit leidet. Er kann nach 20 Tagen Krankenhausaufenthalt wegen einer durch das Coronavirus ausgelösten Lungenentzündung wieder ohne Sauerstoffmaske atmen.
"Stellen Sie sich vor, Sie versuchen, unter Wasser zu atmen", sagt er über diese Erfahrung und fügt hinzu, dass die Einsamkeit, von geliebten Menschen isoliert zu sein, fast unerträglich war. "Es gibt so viele Dinge, die ich nie wieder als selbstverständlich ansehen werde. Wie die Freiheit. Und das Atmen."
Orte verlieren ihr Herz
In den am schwersten betroffenen norditalienischen Regionen Lombardei und Venetien, wo "überfordert" ein unangemessenes Wort ist, um den Zustand der dortigen Intensivstationen zu beschreiben, gibt es zahlreiche Solidaritätsbekundungen: gespendete Lebensmittel, Vorräte und die Einrichtung eines Notfall-Feldkrankenhauses auf dem Parkplatz des Krankenhauses von Cremona durch christliche Non-Profit-Organisationen.
Claudio Cancelli, Bürgermeister von Nembro, einem Dorf in der Lombardei mit einer der höchsten Pro-Kopf-Totenzahlen, sagt, der Verlust vieler älterer Menschen sei ein Schlag für das historische Gedächtnis der Stadt. "Unsere verstorbenen Ältesten bildeten das Herz und die Seele des Dorfes", sagte Cancelli. "Ein Mann gründete unsere Bibliothek, ein anderer war unser Schülerlotse."
Andere arbeiteten im Altersheim - Menschen, die ein wesentlicher Teil unseres sozialen Gefüges waren. Gleichzeitig, so fügte er hinzu, entstehe ein großartiges neues Gemeinschaftsgefühl: "Menschen, die freiwillig Infektionspatienten zur Dialyse ins Krankenhaus bringen und andere, die Medikamente spenden".
Die neue Stärke der Bewohner
Der Bürgermeister von Bergamo, Giorgio Gori, drückt dieselbe Dankbarkeit aus. Die täglichen Todesfälle in seiner Region Lombardei machen die Mehrheit der Fälle in Italien aus. "Die Solidarität und Großzügigkeit war unglaublich. Ich war überwältigt", sagte Gori. "Es gibt einen tragischen, aber auch einen sehr positiven Aspekt: die Stärke und Ernsthaftigkeit der Bürger."
Ob die neue Ernsthaftigkeit ausreicht, um den Italienern zu helfen, nach Corona ein besseres Land zu werden, lässt sich schwer sagen. Aber was offensichtlich ist: Italien, wie die ganze restliche Welt, durchläuft einen tiefgreifenden Wandel, der noch lange nicht vorbei ist.