Krank und gefangen in Gaza
21. Juli 2020Die Abfolge der Ereignisse hätte nicht schwieriger sein können für Walaa Al Zureidi, eine junge Mutter aus Gaza. Die 31-Jährige hat Brustkrebs und benötigt eine Behandlung, die es so im abgeriegelten Gazastreifen nicht gibt.
"Wir wissen nicht, ob ich meine Behandlung bekomme oder nicht. Ohne diese ist mein Leben in Gefahr", sagt sie am Telefon in Gaza. Nach der Entfernung ihres Brustgewebes hätte sie im Juni einen Termin in einem Ostjerusalemer Krankenhaus für eine Strahlentherapie wahrnehmen sollen.
Doch dann kamen plötzlich die Reisebeschränkungen durch die Corona-Pandemie, und die politische Entscheidung der palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah, die Sicherheits- und zivile Koordination mit Israel zu stoppen - als Protest gegen Israels Pläne, Teile des Westjordanlands zu annektieren.
Die ohnehin komplizierte Situation ist damit für Patienten wie Al Zureidi noch komplizierter geworden. Sie wusste zunächst nicht, wie und wo sie die nötige Ausreisegenehmigung bei den israelischen Behörden für den Erez-Checkpoint beantragen kann, um auszureisen.
"Wir wussten nicht, ob es überhaupt noch erlaubt ist, Gaza zu verlassen. Einige sagten, keiner geht mehr raus. In den Nachrichten hieß es, dass doch noch einige über Erez ausreisen. Aber wir wissen nicht, wo wir den Antrag stellen sollen." Israel hat den Gazastreifen seit über 13 Jahren abgeriegelt, seit die Hamas dort die Macht übernommen hat und kontrolliert strikt Personen und Güter.
Auf eigene Faust
Schon immer war es bürokratisch aufwendig, einen Ausreise-Antrag bei den israelischen Behörden zu stellen. Nur bestimmte Kategorien können überhaupt diesen Antrag stellen: Schwerkranke Menschen, Geschäftsleute, Studenten und andere, "humanitäre" Notfälle.
Patienten benötigen zunächst eine Überweisung an ein Krankenhaus außerhalb Gazas und können dann den Antrag über das sogenannte "Komitee für Zivile Angelegenheiten" in Gaza-Stadt stellen, das von der palästinensischen Autonomiebehörde verwaltet wird. Dort werden alle Anträge gesammelt und an die israelische Seite, die zivil-militärische israelische Koordinierungsstelle in den Gebieten (COGAT) (Israeli Coordinator of Government Activities in the Territories) weitergeleitet. Seit Ende Mai ist dieser Prozess gestoppt.
Um sich Hilfe zu holen, mussten Patienten auf eigene Faust Alternativen suchen. "Man leidet nicht nur als Patient unter der Krankheit, man leidet auch, um eine Behandlung zu bekommen", sagt Alia Agha aus Rafah im Süden des Gazastreifens. Wie viele andere Krebspatienten suchte sie bei Menschenrechts- und Hilfsorganisationen in Gaza und Israel Hilfe.
Diese schreiten zwar sonst bei Problemen mit den Genehmigungen ein, stellen aber keine direkten Anträge bei der israelischen Koordinierungsstelle. "Im Juni haben wir uns um 104 dringende Fälle gekümmert, sonst haben wir rund 30 Fälle, die wir mitverfolgen. Das ist eine große Anzahl für uns, die über unsere Kapazität hinausgeht," sagt Ghada Majadle von Physicians for Human Rights (PHR), eine israelische Nichtregierungsorganisation.
Zahl der Ausreisen drastisch gesunken
"Menschenrechtsorganizationen sollten keine offizielle Koordinierungsstelle ersetzen," fügt sie hinzu, und weist darauf hin, dass eine Lösung für das grundlegende politische Problem gefunden werden sollte. Das Al Mezan Zentrum in Gaza-Stadt, eine palästinensische Menschenrechtsorganisation, hatte auch zunächst mit Anträgen geholfen, aber dies wieder gestoppt, um nicht als "Ersatz für die palästinensische Autonomiebehörde gesehen zu werden", sagt der stellvertretende Direktor Samir Zaqquot.
Dabei ist Zeit von entscheidender Bedeutung für Krebspatienten. "Wenn sie ihre Bestrahlungstherapie nicht rechtzeitig erhalten, besteht die Gefahr, dass der Krebs zurückkommt," sagt der Facharzt eines Ostjerusalemer Krankenhauses, der Patienten aus dem Gazastreifen betreut. Der Arzt, der auf eigenen Wunsch anonym bleiben möchte, ist besorgt darüber, dass seine Patienten nicht rechtzeitig für ihre Therapien zurückkehren können.
Laut der israelischen Nichtregierungsorganisation Gisha, die sich für die Reisefreiheit der Bewohner im Gazastreifen einsetzt, ist die Zahl der Ausreisen über den Erez-Übergang von Patienten und ihrer Begleitung im Juni auf unter 200 gesunken. Im Februar wurden noch 2900 Ausreisen gezählt.
Einige Patienten mit chronischen Erkrankungen könnten auch von einem derzeitigen Ausreiseantrag wegen der Corona-Pandemie Abstand genommen haben, so Beobachter. Hamas hat zudem eine strikte 21-tägige Quarantäne für alle verhängt, die in den Gazastreifen zurückkehren.
Ramallah setzt auf UN
In Ramallah nimmt man die Schwierigkeiten sehr wohl wahr, aber eine Lösung kann man dort nicht anbieten. "Krebspatienten und andere Patienten leiden darunter," sagt Ibrahim Milhim, Regierungssprecher in Ramallah per Whatsapp. "Wir haben das internationale Rote Kreuz und UN-Organizationen gebeten, zu intervenieren, damit Patienten in die Krankenhäuser ins Westjordanland, Jerusalem oder nach Israel ausreisen können."
"Die Vereinten Nationen arbeiten derzeit daran, um als Vermittler zwischen der israelischen Seite und der palästinensischen Autonomiebehörde zu agieren", bestätigt Jamie McGoldrick, humanitärer Koordinator der Vereinten Nationen in Jerusalem.
"Wir arbeiten mit beiden Seiten daran, ein System zu entwickeln, in dem die UN als Mittlerin agiert und Patienten erlaubt, wie bisher den Gazastreifen zu verlassen, basierend auf dem bereits existierenden System."
Das würde allerdings nur lebensrettende Fälle betreffen, also Patienten die eine dringende Behandlung im Westjordanland oder in anderen Orten benötigen. Langfristig sollten Möglichkeiten für umfassende Krebstherapien im Gazastreifen geschaffen werden.
NGOs schlagen Alarm
COGAT hat auf ihrer Website einen Online-Antrag für bestimmte humanitäre Fälle eingerichtet. Aber es bleibt unklar, was dies für Studenten, Arbeiter oder palästinensischen Reisende bedeutet, die nach Gaza zurückkehren. Auch für eine Heimreise braucht es eine koordinierte Genehmigung. COGAT hat bislang nicht auf eine Anfrage für mehr Details geantwortet.
In einem am Sonntag veröffentlichten Brief haben fünf israelische Nichtregierungsorganisationen, darunter PHR und Gisha, die zuständigen israelischen Behörden dazu aufgerufen (COGAT, das israelische Verteidigungsministerium und den Generalstaatswalt), "die Reiserestriktionen aufzuheben" und Palästinensern, "die über medizinische Notfälle hinausgehen, die Ausreise über den Erez-Übergang zu ermöglichen, unabhängig von palästinensischen Koordinierungsstellen".
Alia Agha hofft, dass sie ihre Ausreisegenehmigung Ende Juli erhält. "Ich möchte Gaza eigentlich nicht verlassen und bei meiner Familie bleiben. Aber ich habe keine andere Wahl als für eine Behandlung nach draußen zu gehen."