Israel bangt um entführte Teenager
16. Juni 2014Die Strassenkreuzung vor dem Siedlungsblock Gush Etzion im Westjordanland ist wie immer belebt. Einzig die vielen israelischen Militärfahrzeuge, die im Einsatz sind, weisen auf die angespannte Situation hin. Nur wenige Kilometer von hier wurden vergangene Woche drei junge Israelis entführt. Sie waren getrampt, so wie es hier üblich ist, um von einer Religionsschule in der Siedlung Kfar Etzion, südlich von Jerusalem, nach Hause zu fahren. Wie erst jetzt bekannt wurde, konnte einer der Teenager noch einen Notruf an die Polizei absetzen. "Man hat uns entführt", habe er geflüstert. Doch auf der Polizeiwache war man zunächst von einem dummen Scherz ausgegangen. Bis die Armee verständigt wurde verging damit viel Zeit. Das war am Donnerstag abend (12.06.2014), gegen 22:25 Uhr. Danach verliert sich jede Spur.
Seitdem bangt und rätselt Israel über den Verbleib von Naftali Frenkel (16), Gil-ad Shaer (16) und Eyal Yifrah, 19 Jahre alt. Selten war das Land so aufgewühlt wie in diesen Tagen. Eine Sondersendung nach der anderen beschäftigt sich mit dem Schicksal der jungen Leute.
An der Bushaltestelle bei Gush Etzion warten auch heute wieder junge Israelis aus den nahegelegenen Siedlungen auf eine Mitfahrgelegenheit. Von hier aus sind es bis Jerusalem nur rund 30 Minuten. Zwar fährt auch ein israelischer Linienbus, aber mit dem Privatauto sei man einfach schneller und günstiger unterwegs. "Ich trampe jeden Tag, das gehört hier einfach dazu", meint Itzhak, ein junger Siedler selbstbewußt. Das Problem sei dabei nicht das Trampen, sondern die "Araber und Terroristen", die unterwegs seien. Auch Chaim wartet auf eine Mitfahrgelegenheit. Beruhigend findet er, dass an der Kreuzung immer israelische Soldaten stehen. "Klar macht man sich so seine Gedanken, aber so schnell wird das doch nicht mehr passieren", sagt der junge Mann. Wenige Minuten später steigt er in ein Auto.
Schnelle Schuldzuweisungen
Auf politischer Ebene muss Premierminister Benjamin Netanjahu nun dafür sorgen, die Jugendlichen möglichst unbeschadet nach Hause zu bringen. Die Urheber hatte er schnell ausgemacht: "Es sind Mitglieder der Hamas, die für diese Entführung verantwortlich sind", sagte Netanjahu. Um dann auch der Welt zu zeigen, dass die Anerkennung der neuen palästinensischen Interimsregierung ein Fehler war. "Es ist dieselbe Hamas, die mit Präsident Abbas eine Einheitsregierung gebildet hat. Das wird ernste Konsequenzen haben."
Netanjahu wird nicht müde, den palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas persönlich für die Situation verantwortlich zu machen. Dafür habe er auch am Montag (16.06.2014) mit dem Präsidenten in Ramallah telefoniert - erstmals seit über einem Jahr ein direkter Kontakt, wie lokale Medien festhielten. Die palästinensische Führung wiederum kontert, dass der Zwischenfall im sogenannten C-Gebiet des Westjordanlands geschah, das unter völliger Kontrolle der israelischen Militärverwaltung steht und in dem die Siedlungen liegen. Palästinensische Sicherheitsbeamte haben dort keinen Zutritt.
Seit dem Verschwinden kämmt die israelische Armee nun jeden Fleck zwischen Bethlehem und Hebron im südlichen Westjordanland durch. Israel hat zusätzliche Truppen in das Gebiet verlegt und die palästinensische Stadt Hebron weitgehend abgeriegelt. 150 Palästinenser wurden über das Wochenende festgenommen, darunter auch viele hochrangige Hamas-Politiker.
Ein junger Palästinenser kam nach Angaben von Ärzten bei Auseinandersetzungen nahe Ramallah ums Leben, andere wurden verletzt. Die vielen Festnahmen sollen Druck erzeugen, heisst es bei den Sicherheitskräften. "Über die letzten zwei, drei Tage intensivieren wir unsere Truppenpräsenz, wir haben andere Einheiten hergeholt, die hier Tag und Nacht auf der Suche sind", erklärt Armeesprecher Arye Shalikar die Strategie. "Wir versuchen soviel wie möglich Informationen zu sammeln, um diese drei Kinder zu finden, am besten lebend." Dabei setzt die Armee auch auf die enge Sicherheitskooperation mit den Palästinensern. "Die Koordinierung funktioniert, bis jetzt, und wir hoffen, das das so bleibt", sagt Shalikar.
Palästinensische Sicherheitskräfte helfen bei der Suche
Einige Kilometer weiter in Richtung Süden kontrollieren israelische Soldaten die Zugangsstrassen nach Hebron. Auch hier am Ortseingang ist es ruhiger als sonst - aber angespannt. "Die Leute haben Angst, aus dem Haus zu gehen", sagt der palästinensische Taxifahrer Mohammed, der sonst Fahrgäste in die umliegenden Dörfer bringt. "Wegen der Kontrollen habe ich für den Weg über eine Nebenstrasse heute anderthalb Stunden gebraucht. Sonst bin ich hier in 10 Minuten." Die Sorge ist groß, was als nächstes passieren wird. "Die Situation ist so schon schwierig genug“, sagt ein junger Mann, der aus Ramallah nach Hebron unterwegs ist. Er hofft, das die Situation nicht weiter eskaliert. "Wir sind gegen Gewalt. Aber auch gegen jede Art von kollektiven Strafmaßnahmen."
Für den palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas ist es keine einfache Situation. Er hat die Entführung der drei Jugendlichen scharf verurteilt - aber auch den heftigen Einsatz der israelischen Armee kritisiert. Gleichzeitig hat er seine Sicherheitskräfte angewiesen, die Suche der Israelis nach den Vermissten zu unterstützen." Die palästinensischen Sicherheitskräfte bemühen sich, für Ruhe und Ordnung zu sorgen", hiess es aus dem Büro des Präsidenten am Montag.
Auch für Abbas steht viel auf dem Spiel. Denn gerade erst hat er von Europäern und Amerikanern Unterstützung für die neue Interimsregierung erhalten. Nach sieben Jahren hatten Hamas und Fatah einen Versöhnungskurs eingeschlagen. Sollte die Hamas tatsächlich an der Entführung beteiligt sein - und bislang hat sie sich dazu nicht offiziell bekannt - wäre das wohl auch das Ende des Versöhnungsversuchs. Die Hamas-Führung in Gaza hat die Anschuldigungen des israelischen Premierministers als "dumm" zurückgewiesen.
Die Situation ist alles andere als einfach. Viel wird davon abhängen, wie dieser Fall ausgeht, sagen Beobachter. Schon jetzt werden in Israel Fragen und Kritik laut, wie so etwas passieren konnte und was die Folgen sein werden. Dabei erinnern sich viele an die Entführung zweier israelischer Soldaten im Jahr 2006 durch die Hisbollah. Das hatte zum Libanonkrieg geführt. Oder die Entführung des israelischen Soldaten Gilad Shalit, der 2011 nach fünf Jahren Geiselhaft im Gazastreifen gegen mehr als tausend palästinensische Häftlinge freigekauft worden war. Aber die Hauptsache sei momentan, dass die drei unbeschadet wieder nach Hause kommen.