1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Wie der Terror Frankreich erschüttert

13. November 2020

Der Bataclan-Anschlag hat 2015 das ganze Land getroffen. Weitere Attentate folgten. Jürgen Ritte über Frankreichs Umgang mit islamistischem Terror.

https://p.dw.com/p/3l6Cm
Frau trägt bei einem Marsch in Paris zum Gedenken an Samuel Paty einen Mundschutz mit der Aufschrift 'Je suis Samuel'
Teilnehmerin eines Marschs in Paris zum Gedenken an den ermordeten Lehrer Samuel PatyBild: Kiran Ridley/Getty Images

Die Anschläge auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" und den Konzertclub Bataclan vor fünf Jahren sowie die darauf folgende Terrorserie beschäftigen die Franzosen bis heute. Jürgen Ritte, geboren 1956 in Köln, lebt seit 33 Jahren in Paris. Er ist deutsch-französischer Übersetzer, Essayist und Professor für deutsche Literatur und interkulturelle Studien an der Université de la Sorbonne Nouvelle in Paris. Er leitet außerdem den Postgraduate-Studiengang Master franco-allemand de journalisme transnational im Département Etudes germaniques an der Université de la Sorbonne-Nouvelle - Paris 3. Ein DW-Interview über den Umgang mit Integration und den Islam in Frankreich.

Deutsche Welle: Anschläge auf den Konzertsaal Bataclan, die Satirezeitung Charlie Hebdo, feiernde Menschen in Nizza, den Lehrer Samuel Paty und auch auf die Kirche Notre-Dame in Nizza. Wurde bei diesen Anschlägen die Mitte der Gesellschaft getroffen? 

Ja, das macht das alles besonders widerlich. Hochrangige Politiker sind geschützt. Da kann man nicht mit einem Do-it-yourself-Terrorismus, wie er zuletzt nun zu sehen war, mit langen Messern durch die Gegend laufen und etwa Staatspräsident Macron treffen wollen. Es sind offene Institutionen, die im Visier standen. Die Kirchen stehen allen offen. Die Schulen sind insofern offen, dass die Ausgänge nicht weiter bewacht werden. Die Mitte der Gesellschaft ist es ganz gewiss, indem man diese Auswahl trifft, weil eben nur die Mitte ein sicheres Ziel abgibt.

Polizisten mit Maschinengewehr vor der Basilika Notre-Dame in Nizza
Bei einer Messerttacke in der Basilika Notre-Dame in Nizza wurden drei Menschen ermordetBild: Gaillard Eric/abaca/picture alliance

Ist in Frankreich etwas schiefgelaufen? Auch was die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit angeht? Haben die Medien vielleicht Themen wie die Rolle des Islam beschwichtigt und die mangelnde Integration zu wenig verhandelt?

Dieser Nexus kommt natürlich immer, aber es sind zwei verschiedene Dinge. Man kann schwer von verfehlter Integrationspolitik sprechen, wenn man es wie in Nizza mit einem Attentäter zu tun hat, der gerade mal zwei Stunden oder ein paar Stunden mehr in Frankreich war. Man kann auch nicht von verfehlter Integration sprechen bei dem Sohn eines tschetschenischen Asylanten, der geflohen ist aus Tschetschenien in Zeiten des Krieges, den Russland dort geführt hat, und jetzt meint der Sohn, er müsse den Krieg in irgendeiner Weise fortführen, indem er einen Lehrer, den er gar nicht kennt, umbringt. Alles das kann ich nicht als verfehlte Integration sehen. Das ist einfach Mord. Das sind kriminelle Organisationen, die dort zugange sind.

Sie unterrichten an der Universität Sorbonne neben Literaturwissenschaften auch Journalismus. Wie gehen Sie mit solchen Themen um? Radikalisierung des Islam, koloniales Erbe, soziale Ungerechtigkeit - das hängt ja doch auch alles miteinander zusammen.

Das hängt miteinander zusammen. Aber ich finde, der Zusammenhang wird etwas zu rasch gestiftet. Noch einmal: Dass Frankreich ein Problem hat, ein soziales Problem in manchen Randbezirken der Großstädte, ist nicht zu leugnen. Dort hat der Staat in der Tat versagt, weil er sich zurückgezogen hat, weil er sich nicht um diese Menschen kümmert, die man sie dort in Wohnsilos gepfercht hat, weil man die Lehrer in den Schulen dort allein lässt mit überfüllten Klassen. Weil die Polizisten Angst haben, wie etwa in Marseille, dort vorzufahren, weil sie angegriffen werden von den Dealern, die dort ihre kleinen und großen Geschäfte machen und so weiter.

Da kann man von einem sozialen Versagen des Staates sprechen, dem es seit Staatspräsident Mitterrand nicht gelungen ist, ein Konzept für die Brennpunkte in den sogenannten "banlieues" zu entwickeln oder duchzusetzen. Aber man kann im Umkehrschluss nicht sagen: Weil das so ist, fangen jetzt die Leute hier an, andere Menschen zu köpfen und abzustechen und zu schächten wie die Tiere. Diesen Konnex herzustellen, halte ich für extrem problematisch. Das ist für mich ein unzulässiger Kurzschluss, ein Amalgam.

Gedenktafel, auf der steht: Je suis Charlie
"Je suis Charlie": Nach dem Anschlag 2015 erklärten sich Menschen weltweit solidarisch mit den Opfern der SatirezeitschriftBild: picture-alliance/Hollandse Hoogte/J. van Gennip

Wie sieht es mit der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit aus?

Ja, die koloniale Vergangenheit Frankreichs sorgt dafür, dass wir in Frankreich mit dem Islam die zweitstärkste Religionsgemeinschaft haben. Es leben sehr viele Menschen aus den alten kolonialen Gebieten oder Protektoraten aus Nordafrika, oft aus Schwarzafrika, in Frankreich, als Franzosen in Frankreich. Zu selten haben sie einen sozialen Aufstieg geschafft. Aber auf der anderen Seite ist es nicht so, dass die alle nicht integriert wären, dass sie alle in der Misere lebten. Sie sind zum einen alle Franzosen, haben einen französischen Pass. Das ist etwas anderes als beispielsweise bei vielen Türken in Deutschland.

Und viele von ihnen, ich möchte sogar sagen die meisten von ihnen, schaffen es irgendwie. Sie sind vielleicht nicht da genug repräsentiert, wo die französische Gesellschaft sich nach außen zeigt, wo sie sich inkarniert. Also nehmen wir die populären Nachrichtensprecher im Fernsehen, nehmen wir hohe Politiker, hohe Staatsbeamte, Universitätsprofessoren, Chefs der großen Unternehmen, Kulturschaffende. Dort sind sie vielleicht nicht stark genug repräsentiert, noch nicht. Aber viele von ihnen machen Abitur, finden hinterher Arbeit.

Das sind Menschen, die zu der muslimischen Glaubensgemeinschaft gehören, die aber mit dem Terror nichts, aber wirklich absolut nichts zu tun haben, die ihn resolut ablehnen, weil sie regelmäßig von diesem Terror in Geiselhaft genommen werden. Diejenigen, die zwischen Islamismus und Moslems nicht unterscheiden, sind nicht die Vertreter einer dominant weißen französischen Gesellschaft. Es sind die Islamisten, die diese Verwechslung absichtlich herstellen, die die Spaltung der Gesellschaft betreiben, die das Spiel der extremen Rechten spielen, die letztlich einen bürgerkriegsähnlichen Zustand herbeisehnen.

Schriftzug am Konzertsaal Bataclan
Im Pariser Bataclan und der Bar Bonne Biere in Paris wurden im Jahr 2015 Attentate verübtBild: DW/L.Albrecht

Also würden Sie sagen, dass es sich um Ausnahmeerscheinungen, um Einzeltäter handelt und die Vorfälle weniger mit der verfehlten Integrationspolitik in Frankreich zu tun haben?

Die Erklärung wäre zu mechanistisch, denn dann hätten wir, glaube ich, den permanenten Bürgerkrieg in allen unseren westeuropäischen Staaten. Es gibt überall Gründe zur Unzufriedenheit. Es gibt überall gesellschaftliche Gruppen, die nicht richtig integriert sind, für die der Staat absent ist. Das brauchen wir nicht schönzureden. Wir haben Probleme in unserer Gesellschaft. Aber aus dem Befund einer Problemlage, sozusagen qua Automatismus den Terror herzuleiten, das halte ich für eine gründlich verfehlte Analyse.

Wenn man sich die letzten beiden Anschläge auf Samuel Paty und auf die Gläubigen in einer Kirche in Nizza anschaut, dann sieht man Akte, die immer barbarischer werden. Würden Sie sagen, das hat auch eine symbolische Kraft, jemanden auf offener Straße hinzurichten?

Ja, das ist die Frage, ob wir - wenn ich wir sage, meine ich uns, die Interpreten, die professionellen Dechiffrierer: Journalisten, Wissenschaftler, Intellektuelle - vielleicht etwas zu weit gehen, wenn wir eine Symbolsprache hinter den Terrorakten sehen. Aber in der Tat habe ich den Eindruck, dass es symbolische Akte insofern sind, als hier Tötungen vorgenommen werden, wie sie ja schon aus dem Fernsehen bekannt sind. Wir kennen sie schon von Bildern dessen, was der sogenannte Islamische Staat im Irak und in Syrien veranstaltet hat. Wir kennen sie von Bildern aus Afghanistan.

Eine Gedenktafel mit einem Foto des getöteten Lehrers Samuel Paty
Der Geschichtslehrer Samuel Paty wurde im Oktober 2020 auf der Straße hingerichtetBild: Lewis Joly/dpa/picture-alliance

Jemandem den Kopf abzuschlagen, ihn geradezu zu schächten wie ein Tier, das ist schon ein Akt, der in seiner barbarischen Dimension gar nicht mehr zu überbieten ist. Aber es ist genau das, womit sie sich selber inszenieren als unerbittlicher Arm eines rächenden Gottes: Nicht umsonst filmen sich manche Attentäter bei ihren Morden. Und dass die Bilder von der Enthauptung Samuel Patys rasch im Internet zirkulierten (ein islamistischer Imam hatte sie ins Netz gestellt, Anm. d. Red.), gehört zum Programm: Das ist die Botschaft. Das ist der totale Terror.

Wie kann Frankreich denn jetzt noch seine Werte verteidigen, wenn das Lehrpersonal Angst haben muss, auf offener Straße hingerichtet zu werden?

Indem es das Lehrpersonal schützt, indem wir zunächst einmal die Schulen noch besser bewachen. Wir haben bereits den "Plan Vigipirate" (Sicherheitsmaßnahmen, die nach dem Attentat auf Charlie Hebdo 2015 eingeführt wurden, Anm. d. Red.): Universitäten und andere öffentliche Gebäude wie etwa Museen sind sogar nur noch über ein Tor und nach Kontrollen zugänglich. Das muss an Schulen genauso gehalten werden.

Es geht zunächst ganz einfach darum, eine Rechtsordnung zu verteidigen. Dafür gibt es Polizei- und Geheimdienste in der Vorbeugung. Dafür gibt es Gesetze, das Recht, Gerichte. Und darauf sollte man sich zunächst verlegen. Die Werte Frankreichs hat Staatspräsident Macron nun mehrfach in Erinnerung gerufen: Meinungsfreiheit, Laizismus.

Persönlich fällt es mir schwer und halte ich es für problematisch, nach jedem Terroranschlag unter einigem rhetorischem Aufwand die Flagge der Werte zu hissen. Das ist zwar verständlich unter dem Eindruck des kolossalen Schocks, den die Attentate auslösen. Aber soll man sich auf eine Wertediskussion einlassen aufgrund von Terroranschlägen? Soll man sich von Mördern eine Diskussion aufzwingen lassen? Das hieße ja, dass man ihnen eine Legitimität zugesteht, den Mord als Diskussionsbeitrag annähme. Was soll das? Und was soll das für ein Werte-Angebot sein, das da von der anderen Seite zur Debatte gestellt wird? 

Gibt es irgendeine Form von Reaktion der Intellektuellen in Frankreich?

Ja, die gibt es. Ich erinnere mich an eine Debatten-Seite in "Le Monde" nur einen Tag vor dem Attentat von Nizza. Und dort meldete sich unter anderem Didier Daeninckx zu Wort, ein sehr beliebter französischer Kriminalautor, ein engagierter Linker. Und der hat dort abgerechnet mit seinen eigenen Leuten, hat in etwa gesagt: Die Katastrophe ist, dass wir es in Frankreich mit einer Linken zu tun haben, die die Republik verrät, indem sie sich aus vollkommen falsch verstandener Solidarität mit Leuten gemein gemacht hat, die unter dem Deckmantel des Minderheitenschutzes identitäre Bewegungen stützt und damit immer mehr zum Kommunitarismus neigt auf Kosten der egalitären, religionsneutralen Republik.

Teile dieser Linken haben sich vom Totschlagargument der "Islamophobie" beeindrucken lassen, das sie umstandslos mit Rassismus identifizieren und sehen also kein Problem darin, wenn Mädchen mit Kopftuch in die Schule geschickt und vom Sportunterricht ferngehalten werden. Das beobachtet man ja auch in Deutschland. Und sie bügeln - in Frankreich - antisemitische Attentate, verübt von Islamisten, gerne herunter.

Übersetzer Jürgen Ritte
Lebt und lehrt seit vielen Jahren in Paris: Literaturwissenschaftler und Übersetzer Jürgen RitteBild: Pariser Maison Heinrich Heine

Das ist nicht ganz falsch gesehen. Und Raphaël Glucksmann (Mitbegründer der linken, ökologischen und pro-europäischen Partei Place Publique, Anm. d. Red.), der sich eher als Sozialdemokrat bezeichnen würde, Europaabgeordneter ist, schrieb auf derselben Seite in ähnlichem Sinne. Mit einer vorgeblich "unterdrückten" Bevölkerung haben diese islamistischen Mörder nichts zu tun. Sie unterdrücken sie selber, wie sie an den Orten in der Welt, wo sie sich austoben, eindrücklich unter Beweis stellen. Sie unterdrücken die Frauen. Sie unterdrücken die Schwulen. Sie unterdrücken die Andersgläubigen. Sie unterdrücken die Freiheit.

Das Gespräch führte Sabine Oelze.

Frankreich: Comics gegen das Terror-Trauma

Autorin Sabine Oelze
Sabine Oelze Redakteurin und Autorin in der Kulturredaktion