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Interview: Risiken von Strahlung unterschätzt

Das Interview führte Gero Rueter30. Mai 2012

Der Biomathematiker Hagen Scherb vom Helmholtz Zentrum München hat herausgefunden, dass weniger Mädchen in der Nähe von Kernkraftwerken geboren werden als nach dem statistischen Durchschnitt normal wären.

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Das Atomkraftwerk Gundremmingen (Foto: Karl-Josef Hildenbrand dpa/lby)
Bild: picture-alliance/dpa

Deutsche Welle: Herr Scherb, Sie haben durch die Auswertung von Geburtsstatistiken in Deutschland und der Schweiz herausgefunden, dass weniger Mädchen in der Nähe von Atomanlagen geboren werden als statistisch zu erwarten wäre. Etwa ein Prozent weniger Mädchen kommen dort zur Welt. Was heißt das für die Atomkraft in Deutschland?

Biomathematiker Hagen Scherb vom Helmholtz Zentrum in München
Biomathematiker Hagen Scherb vom Helmholtz Zentrum in MünchenBild: Scherb

Scherb: Wir hatten 2010 einen vorläufigen Datensatz publiziert. Danach haben wir zwischen zehntausend und zwanzigtausend verlorenen Mädchen in der Gesamtschweiz und in Gesamtdeutschland über die gesamte Laufzeit der dort existierenden Reaktoren.

Heißt das übersetzt, die zivile Atomkraft tötet Leben?

Es verschiebt sich das Geschlechterverhältnis. Es kann also sein, dass dabei Mädchen verloren gehen. Jetzt interpretieren wir das seit einigen Monaten so: Wenn Mädchen verloren gehen, auch in einem sehr frühen Zellniveau - also vielleicht als Samenzelle im Vater - verschiebt sich dort das Geschlechtsverhältnis der X- und Y-Chromosom-tragenden Spermien. Dann würde eventuell ein Mädchen nicht entstehen und mit höherer Wahrscheinlichkeit ein Junge. Die Eltern würden das gar nicht merken, das Leben geht weiter. Dadurch würde statt eines Mädchens ein Junge zur Welt kommen. Dann müsste man sagen, dass zwanzigtausend verlorene Mädchen unter Umständen eigentlich nur zehntausend verlorene Mädchen sind, aber zehntausend Jungen zu viel. So könnte es sein. Das ist der neuere Standpunkt, den wir momentan haben. Aber es könnten auch einfach verlorene Mädchen sein.

Also, man kann nicht sagen  "Atomkraft tötet Kinder bzw. Embryonen" sondern "Atomkraft verschiebt eventuell das Geschlechterverhältnis"?

Ja, das könnte man sagen. Wenn man natürlich sehr polemisch ist oder streng religiös, da könnte man schon sagen, dass die Atomkraft Embryonen tötet - in dem Sinne, dass sie sie nicht zustande kommen lässt oder in das biologische Geschehen eingreift. Das ist ein Eingriff in die Natur und die Natur des Menschen. Natürlich auch in die Tiere und Pflanzen, die dort betroffen sind.

Fässer mit Baumüll im stillgelegten KKW Rheinsberg
Das AKW Rheinsberg wird derzeit abgebaut. Auch der Rückbau hat einen Einfluss auf die GeburtenrateBild: DW

Es gibt ja auch andere Statistiken, die Sie auch kennen, die sagen, dass es in der Nähe von Atomkraftwerken häufiger zu Leukämie bei Kindern kommt . Wie ordnen Sie das ein?

Das sind alles genetische Effekte und diese sind bisher in der Strahlenbiologie unterschätzt worden. Zu diesen Effekten gehören die Entstehung von Krebs, Fehlbildungen und die Verschiebung des Geschlechtsverhältnisses. Das ist ein Eingriff in das molekular biologische Geschehen im gesunden Menschen, der dadurch beeinträchtigt und krank wird. Oder die offensichtlich sehr empfindliche Lebensentstehung wird beeinträchtigt. So nimmt die Säuglingssterblichkeit zu und so verschiebt sich auch das Verhältnis der Geschlechter.

Gibt es auch signifikante Unterschiede, bei der Geschlechterverschiebung zwischen den einzelnen Atomanlagen, etwa zwischen Kernkraftwerken und Atommülllagern?

Ursprünglich wollten wir nur die Kinderkrebsstudie nachbilden mit dem Geschlechterverhältnis. Die Kinderkrebsstudie hat ja nur Kernkraftwerke betrachtet. Dann hatten wir die Idee, weil wir es einfach leicht machen konnten, auch andere Nuklearanlagen zu betrachten. Wie untersuchten also auch Uranminen, Betriebe der Uranverarbeitung, der Brennelement-Herstellung und auch atomare Zwischenlager. Und das Erstaunliche war, dass wir den Eindruck gewonnen haben - es ist aber noch nicht alles perfekt ausgewertet - dass diese Verarbeitungsstandorte oder Lagerstandorte im Allgemeinen einen stärkeren Effekt aufweisen als die Kernkraftwerke. Dies könnte man sich auch tatsächlich erklären: In Kernkraftwerken gibt es biologische Schilde, fertige Betonwände. Deswegen könnte dort insgesamt noch etwas mehr Schutz bestehen als dort, wo mehr oder weniger offen mit diesen Materialen hantiert wird. Den stärksten Effekt stellten wir im atomaren Zwischenlager Gorleben fest. Das war völlig überraschend und es konnte niemand erwarten. Wir haben das eigentlich nur zufällig entdeckt.

Niedersachsen/ Die Castor-Behaelter erreichen am Montag (28.11.11) auf Tiefladern das Zwischenlager Gorleben. Foto: Nigel Treblin/dapd
Transport zum Zwischenlager Gorleben. Stastisch kamen hier seit der Einlagerung über 300 Mädchen weniger zur Welt.Bild: dapd

Was kann man daraus schließen?

In Kernkraftwerken herrschen definiertere Verhältnisse. Aber wir sehen diesen Effekt sowohl in Rheinsberg, einem der Kernkraftwerke, die zurückgebaut werden, als auch im Zwischenlager Gorleben. Also gibt es offenbar irgendeinen biologisch relevanten Faktor der in weniger gut abgeschirmten Orten eine größere Wirkung gewinnt, als in abgeschirmten Kernkraftwerken.

Welcher biologische Faktor der Strahlung ist das?

Als wir zum ersten Mal vor knapp zwei Jahren dieses Ergebnis von Gorleben vorstellten, da hat man uns spontan vorgehalten, "das kann gar nicht sein, dort tritt nichts aus". Aber wenn man sich anschaut, wie hoch die Neutronendosis direkt an dem Transportbehälter, an einer Castorwand ist, dann liegt diese 50.000 bis 100.000-fach über der normalen Neutronenhintergrundstrahlung. Und jetzt wird diskutiert, ob nicht der Feinstaub, der dort umgewälzt wird, ein Faktor sein kann. Die Castoren werden ja mit Luft gekühlt und der Stickstoff in der Luft könnte zu C14, also radioaktivem Kohlenstoff aktiviert werden. Und da in den Castorlagern 100 solcher luftgekühlter Castoren stehen, herrschen dort ziemliche Aufwinde. Dieser aktivierte Luftstickstoff wird dann in größerer Entfernung abgeregnet oder abgelagert. So könnte es sein. Man kann aber nicht sagen, in den Zwischenlagern tritt nichts aus. Das wäre falsch.

Welche Schlussfolgerung sollte die Politik aus der Erkenntnis ziehen?

Sie sollte den Verheißungen, dass Niedrigdosisstrahlung im Prinzip harmlos ist, nicht mehr glauben. Sie sollte misstrauisch werden. Ich wüsste auch nicht, was man jetzt machen sollte. Und das erklärt auch für mich, dass die Politik insgesamt jetzt nicht besonders scharf darauf ist, zu wissen was los ist. Denn jede politische Partei, die die nächsten Wahlen gewinnt und die Verantwortung übernimmt, steht vor dem Problem, was man damit macht. Das, was wir herausgefunden haben, deutet darauf hin, dass bestimmte Grundannahmen überhaupt nicht stimmen. Das heißt, dass die Risikobewertungen für die Bevölkerung nicht stimmen. Um vor diesen Risiken besser zu schützen, müsste man eigentlich sehr viel Geld in die Hand nehmen, erstens für die Aufklärung und zweitens möglicherweise auch für die Reparatur oder den Strahlenschutz. Das könnte unter Umständen sehr teuer sein. Wenn man jetzt ganz pessimistisch ist, könnte man sagen: 'Es ist vielleicht auch unmöglich'. Vor dem Hintergrund der ungelösten Endlagerfrage, könnte man schon sehr pessimistisch werden.

Das heißt, die Politiker wollen am liebsten weiterhin möglichst wenig wissen, um nicht in die Verantwortung treten zu müssen?

So kann man es auch wunderbar ausdrücken - Ja.

Dr. Hagen Scherb vom German Research Center for Environmental Health, am Helmholtz Zentrum München, fand in einer neuen Studie zusammen mit seiner Kollegin Dr. Kristina Voigt ein verändertes Geschlechterverhältnis in der Nähe von Atomanlagen.