Interview: "Der Flüchtlingstod im Mittelmeer ist unerträglich"
8. April 2011Deutsche Welle: Die EU-Kommission fordert, die in Malta und Italien ankommenden Flüchtlinge aus Nordafrika auf die Mitgliedsstaaten zu verteilen. Die Bundesregierung hat sich lange gesperrt, will nun aber 100 Flüchtlinge aus Malta aufnehmen. Am Montag (11.04.2011) beraten die EU-Innenminister das Thema; dann wird sich zeigen, ob das deutsche Angebot die Partner zufriedenstellt. Wie gut ist Deutschland für die Aufnahme von Flüchtlingen gerüstet?
Manfred Schmidt: Wir haben unser System in den letzten Jahren so aufgebaut, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zusammen mit den Bundesländern bei humanitären ad-hoc-Maßnahmen Flüchtlinge aufnehmen kann. Wir wären bei einem Massenansturm die nationale Kontaktstelle und würden das koordinieren. Sollten die Europäischen Innenminister entscheiden, dass Flüchtlingskontingente auch in Deutschland aufgenommen werden, stehen sowohl der Bund – also unser Bundesamt - als auch die Länder für diese humanitäre Aktion bereit. Ich halte eine solche Entscheidung aber für unwahrscheinlich.
Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Asylanträge um rund 50 Prozent auf 41.000 gestiegen, in diesem Jahr gingen manche Prognosen bereits vor den Veränderungen im arabischen Raum von einer weiteren Steigerung um 50 Prozent aus…
Wir erwarten keine Steigerung um 50 Prozent. Wir haben im letzten Jahr in der Tat einen starken Zuwachs an Asylbewerbern gehabt. Das hat seinen Grund aber auch darin gehabt, dass Bürger aus Serbien, Mazedonien und Montenegro seit Ende 2009 ohne Visum in die EU einreisen können. Wir hatten allein aus Serbien und Mazedonien 5000 bis 6000 zusätzliche Anträge - und das hat natürlich zu der erhöhten Zugangszahl in Deutschland geführt. Damit rechnen wir 2011 nicht. Wobei unsere Zugangszahlen in den ersten Monaten um etwa 37 Prozent über den Vergleichszahlen des letzten Jahres lagen.
Wie gehen Sie damit um?
Wir haben die Möglichkeit, und deshalb ist meine Behörde gut aufgestellt, durch Personalverschiebungen eine Spitzenbelastung aufzufangen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir haben im letzten Jahr allein 50 Kollegen aus anderen Bereichen des Bundesamtes in den Asylbereich entsandt. Es ist uns deshalb gelungen, bei 67.000 Verfahren - also auch bei Fällen aus den Vorjahren - eine Entscheidung zu treffen. Wir sind zwar nur auf 19.000 Erstanträge ausgelegt, was auch damit zusammenhängt, dass Anfang der 2000-er Jahre die Asylzahlen zurückgegangen waren. Aber wir haben durch eine Personalverschiebung auf steigende Zahlen reagiert.
Können auch die Bundesländer mit der Situation umgehen? Dort wurden schließlich die Unterbringungsmöglichkeiten abgebaut...
Wir arbeiten ja eng mit den Ländern zusammen und sehen, dass die Kapazitäten im Moment durchaus ausreichen, die Asylbewerber aufzufangen. Hier in Bayern haben wir gerade eine Diskussion um eine dritte Erstaufnahme-Einrichtung, weil hier die Kapazitäten neu ausgerichtet werden müssen. Niedersachsen hat das Grenzdurchgangslager Friedland ausgebaut. Auch die Länder reagieren auf die Herausforderungen sehr flexibel. Im Moment gibt es keine Anzeichen, dass Bund oder Länder mit dem Problem nicht umgehen könnten.
Im Januar hatten Sie erklärt, Ihre Behörde sei bereits durch die Steigerung um 50 Prozent überlastet. Stimmte das gar nicht?
Spitzenbelastungen können wir durch Verschiebungen im Amt auffangen. Sollten wir über die nächsten Jahre allerdings auf diesem hohen Niveau bleiben, dann ist die Personalausstattung hier im Bundesamt noch einmal zu überprüfen. Das hängt damit zusammen, dass ich die Kollegen, die ich in den Asylbereich entsende, natürlich aus dem Integrationsbereich herausnehmen muss, das ist die zweite Säule des Bundesamtes. Doch gerade Integration gehört zu den gesellschaftspolitisch wichtigen Fragen. Wir sind momentan mit dem Bundesministerium des Innern dabei, die Kollegen im Finanzministerium zu überzeugen, dass wir an der einen oder anderen Stelle eine personelle Verstärkung brauchen.
Ihre Behörde ist auf 19.000 Erstanträge ausgelegt – so wenige Asylbewerber gab es bislang nur im Jahr 2007. War es ein Fehler, sich am Minimalbedarf zu orientieren?
Solange es uns gelingt, Spitzenbelastungen durch unsere personalwirtschaftlichen Möglichkeiten auszugleichen, ist der Personalbestand ausreichend. Vorhersagen sind im Asylbereich immer schwierig. Ich kann deshalb keine Prognose wagen, wie die Situation in zwei, drei Jahren aussehen wird. Mitte der 1990-er Jahre hatten wir pro Jahr 400.000 Asylbewerber. Durch die gesetzlichen Regelungen sind wir dann auf das in der Tat historische Tief im Jahr 2007 gekommen. Aber wir müssen natürlich trotzdem immer Prognose-Entscheidungen treffen.
Die 41.000 Anträge vom vergangenen Jahr waren bereits eine erste Spitzenbelastung. Wo sehen Sie das Limit?
Die Frage ist schwer zu beantworten, denn es kommt auch darauf an, wer kommt. Im vergangenen Jahr hatten wir eine Mehrbelastung von etwa 10.000 Anträgen. Die Fälle von Antragstellern, die sich nicht auf den Genfer Flüchtlingsschutz oder die Europäische Menschenrechtskonvention berufen können, sondern die schlicht und ergreifend die Visa-Liberalisierung für die Balkanstaaten ausgenutzt haben, lassen sich relativ schnell bearbeiten. Wären alle 41.000 Antragsteller aus Afghanistan, dem Irak oder dem Iran gekommen, wäre das wesentlich schwieriger gewesen. Wir hätten uns dann auch mit Fragen wie geschlechtsspezifischer Verfolgung oder posttraumatischen Belastungsstörungen auseinandersetzen müssen. Dann ist der Verfahrensablauf völlig anders, als bei Antragstellern, die zum Beispiel aus Serbien oder Mazedonien kommen. Würden solche Fälle stark zunehmen, würden wir mit Sicherheit über der Grenze des Limits arbeiten.
Auf welche Flüchtlingszahlen aus Nordafrika stellen Sie sich ein?
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lassen sich die Auswirkungen der Ereignisse in Nordafrika nicht abschätzen. Eine signifikante Erhöhung der Asylerstantragszahlen aus Tunesien, Libyen oder Ägypten ist nicht festzustellen. Soweit wir den Verlautbarungen des UNHCR entnehmen können, handelt es sich bei den allermeisten Flüchtlingen, die derzeit auf Lampedusa eintreffen, um Menschen, die ihre wirtschaftliche Situation verbessern wollen. Deshalb erwarte ich da nur wenige komplizierte Fälle. Gestatten Sie mir aber noch eine Anmerkung: Ich halte den Flüchtlingstod im Mittelmeer für unerträglich. Die überwiegend wirtschaftlichen Fluchtursachen müssen durch konkrete Hilfe der EU in den Herkunftsländern beseitigt und den für die Überfahrten in überfüllten, maroden Booten verantwortlichen Schlepperbanden muss das Handwerk gelegt werden.
Manfred Schmidt ist seit Dezember 2010 Präsident des Bundesamtes für Migration. Zuvor hatte der promovierte Jurist Im Bundesinnenministerium die Abteilung für Krisenmanagement und Bevölkerungsschutz geleitet.
Das Gespräch führte Dennis Stute